Ein Mensch namens Jesus
Lektüre dieser Art auseinandersetzen, zu den gleichen Schlußfolgerungen kämen wie ich.
Die Hauptschwierigkeit dieses Werkes bestand darin, die verfügbaren historischen Daten, die Grundideen der christlichen Überlieferung und die Strukturen zahlreicher religiöser Traditionen des Mittelmeerraums miteinander in Einklang zu bringen.
Seit etwa fünfzig Jahren wird uns eine wahre Fülle neuer historischer Daten geliefert, die direkt oder indirekt mit Jesus zu tun haben. An erster Stelle stehen die berühmten Handschriften vom Toten Meer. Ein Schäfer fand die ersten Schriftrollen im Jahr 1949, und allein schon der Zustand dieses Fundes könnte einem Roman entnommen sein. Nicht nur die Konservierung und Deutung der Rollen warf nämlich beachtliche technische und philologische Probleme auf, sondern manchmal glaubten sich die Forscher bei der Suche nach den Schriftrollen geradezu in einen Krimi versetzt, wie Edmund Wilson in »Israel and the Dead Sea Scrolls« und John Allegro in »The Dead Sea Scrolls— An Appraisal« anschaulich erzählen. Oft ist die schlimmste Gefahr, die archäologischen Schätzen drohen kann, ihre Entdeckung schlechthin.
Das Außergewöhnliche an diesen Rollen ist jedoch, daß vierzig Jahre nach ihrer Entdeckung und obwohl sie nun vollständig entziffert sind, erst kaum zwanzig Prozent davon veröffentlicht wurden. Jeder kennt sie, aber nur wenige wissen über ihren Inhalt Bescheid, und hätte es da nicht ein überraschend freizügig gehaltenes, diskretes kleines Werk des Kardinals Jean Daniélou gegeben, könnten sich noch weniger Menschen eine Vorstellung davon machen, was nun eigentlich von diesen Rollenfunden zu halten ist. Aber ebendieser Sachverhalt erklärt leicht — sofern auf diesem Gebiet überhaupt von Leichtigkeit die Rede sein kann — die nur allzu wirkliche Verschwörung, die über die Handschriften vom Toten Meer einen Mantel des Schweigens wirft: Sie zeigen auf- und ein Irrtum ist bei der Interpretation nahezu auszuschließen — , daß Jesus’ Lehre, ja sogar die Struktur seiner Lehre im wesentlichen schon vor ihm existiert hat. Das heißt, um es kurz zu machen, was ein Privileg aller Laien ist, daß die von den Meistern der Essenergemeinschaft in Qumran vertretene Lehre Jesus stark beeinflußt hat. Alles deutet daraufhin, daß sich der Übergang vom Judentum zum Christentum über den Chiliasmus einer jüdischen Sekte vollzieht, die rund einhundertfünfzig Jahre vor unserer Zeitrechnung auftauchte und bei der Belagerung von Masada, jedenfalls aber noch vor Ende des ersten Jahrhunderts wieder von der Bildfläche verschwand. Letzten Endes bedeutet dies, daß die Zäsur zwischen Judentum und Christentum nichts weiter als ein Mythos ist, der zwanzig Jahrhunderte lang verbreitet wurde, trotz seines langen Bestehens jedoch nicht an Glaubwürdigkeit gewinnt.
Eine weitere große Entdeckung, die mich zum Schreiben etlicher Seiten dieses Buches inspirierte, ist das im Jahr 1945 in Oberägypten bei Nag’Hammadi gefundene Thomas-Evangelium, über das man vorsichtshalber den undurchsichtigen Schleier der Gelehrsamkeit warf. Wären nicht die bemerkenswerten Arbeiten von Henri Puech gewesen, die 1978 unter dem Titel »En quête de la Gnose« gesammelt und veröffentlicht wurden und deren zweiter Band eine detaillierte Analyse des Thomas-Evangeliums und seiner Implikationen beinhaltet, wüßten nur sehr wenige Menschen, daß die erste christliche Überlieferung von einer langen, recht beachtlichen gnostischen Ader durchzogen war, die im nachhinein zu verbergen die Theologen keine Mühe scheuten. Mit anderen Worten: Es gab möglicherweise in Jesus’ unmittelbarer Umgebung, auf jeden Fall jedoch unter seinen Nachfolgern zumindest einen exemplarischen Gnostiker, also einen erklärten Gegner des Menschwerdungsdogmas. Wie dem auch sei, dieses fünfte Evangelium wirft ein besonderes Licht auf die Person des Jüngers Thomas. Ich persönlich bin aus etlichen philosophischen Gründen — ganz zu schweigen von der Skepsis, die in den kanonischen Evangelien anklingt — nicht der Meinung, daß der griechische Beiname Didymos darauf hindeutet, daß er irgend jemandes Zwillingsbruder gewesen sein soll; für mich stammte Thomas aus einer der berühmtesten heiligen Stätten der Antike, nämlich aus dem milesischen Didyma.
Aus der Sicht der heutigen christlichen Lehre mag das fünfte Evangelium sicherlich verwirrend erscheinen. Und dennoch wurde es bis ungefähr ins 5. Jahrhundert hinein von den
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