Ein Mensch namens Jesus
Es mußte eine Verbindung zwischen den Essenern und Jesus bestehen, und diese Verbindung war Jokanaan, den die Evangelien als Jesus’ Vetter vorstellen und dessen Ähnlichkeit mit den Essenern — sowohl was seine Lehre als auch seine Lebensführung betraf — ebenfalls zu groß war, um auf einem Zufall zu beruhen.
Ich postuliere in diesem Buch, daß Jesus von Jokanaan in Qumran eingewiesen wurde. Die Gelehrten, denen Mutmaßungen von Natur aus zuwider sind, finden dies sicher ungerechtfertigt. Noch unbegründeter wird ihnen meine Hypothese erscheinen, daß die beiden Männer Qumran nach einer gewissen Zeit verlassen haben. Ich möchte jedoch an zwei Behauptungen in den Evangelien erinnern, die sowohl das erste als auch das zweite Postulat rechtfertigen: Erstens wird behauptet, daß Jokanaan noch vor Jesus lehrte, da der Täufer das Kommen des Messias ankündigte, und zweitens steht in den Evangelien, daß Jokanaan offenbar außerhalb jeglicher Gemeinschaft als Eremit lebte, was ganz und gar nicht zu der im wesentlichen gemeinschaftlich ausgerichteten Lebensweise der Essener paßt. Nun hat er aber allem Anschein nach seine Ausbildung bei den Essenern genossen, da er ihre Sprache spricht, also muß er sie auch irgendwann verlassen haben. Aber wann? In den Evangelien finden sich kaum chronologische Hinweise, die diese Frage beantworten könnten, doch vermutlich geschah dies kurz vor Jesus’ Auftreten in der Öffentlichkeit, also nach den sogenannten Jahren in der Wüste.
Dem Leser wird sich gewiß wie mir die Vermutung aufdrängen, daß Jesus jene Jahre in der Wüste, die gleichsam als Einschnitt erscheinen
- gemeint ist damit die Zeitspanne zwischen seinem vierzehnten Lebensjahr und dem Beginn seines Wirkens in der Öffentlichkeit — , in Qumran zugebracht hat, das ja bekanntlich in der Wüste unweit des Toten Meeres liegt. Seine gleichnishafte, oft schwer verständliche Sprache hat er sich wohl dort angeeignet, als er mit der in sich abgeschlossenen, ja fast esoterischen Lehre der Essener in Berührung kam.
Ich glaube allerdings nicht, daß Jesus wirklich zwanzig Jahre hinter den Klostermauern Qumrans verbracht hat, denn meiner Meinung nach wäre er nach einem so langen Aufenthalt unweigerlich in der Essenergemeinschaft aufgegangen. Nach einem solch langen Aufenthalt hätte er keinen Grund mehr gehabt, die Essener zu verlassen. Und doch ging er fort. Weshalb?
Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen. Zum einen äußert sich Jesus mehr als einmal verärgert über all jene, die sich zu eng an die Worte des Gesetzes klammem und darüber deren Sinn vernachlässigen. Diese Kritik kann sehr wohl auf die Essener gemünzt sein, weil sie sich zahllose, fast lächerlich anmutende Rituale auferlegt hatten und diese uns bis ins kleinste Detail überlieferten Gepflogenheiten peinlich genau ausführten. Während Jesus für seine Person weiterhin jegliches Privateigentum ablehnte, was die Essener ihm ja vorgelebt hatten, verwarf er jedoch eine ihrer strengsten Vorschriften, nämlich die der vollständigen körperlichen Reinigung vor der Berührung von Nahrungsmitteln, was ihm von den Pharisäern später zum Vorwurf gemacht wurde. Vor allem aber verstieß er gegen die gestrengen Vorschriften zur Einhaltung des Sabbats; so heilte er zum Beispiel Kranke am Sabbat, was wiederum bei den Pharisäern Anstoß erregte und die Essener geradezu schockieren mußte. Diese verboten sich nämlich sogar, am Sabbat ihren natürlichen Bedürfnissen nachzukommen, da man, ebenfalls genau nach Ritual, mit einer besonderen Schaufel ein Loch von ganz bestimmter Tiefe graben mußte, in das hinein die Ausscheidungen zu entleeren waren. Eine derart übertriebene Strenge mußte Jesus unerträglich erschienen sein, da für ihn das Heil Israels und der Menschen wirklich nicht in solchen Lächerlichkeiten zu suchen war.
Ein letzter Punkt noch, der zu bestätigen scheint, daß Jesus eine bestimmte Zeitspanne seines Lebens der Gemeinschaft der Essener angehörte: Er überschüttet die Pharisäer, manchmal auch die Sadduzäer mit Verwünschungen, die Essener hingegen verschont er rätselhafterweise damit.
Hatte Jesus den Essenern in ideologischer Hinsicht auch manches zu verdanken, so konnte er sich doch auf seinen ureigenen Genius verlassen. Wahrscheinlich kam dieser Genius im Laufe seines Wirkens in der Öffentlichkeit immer mehr zum Ausdruck, als er nämlich immer häufiger mit dem palästinensischen Volk konfrontiert war und dabei allmählich
Weitere Kostenlose Bücher