Ein Mensch namens Jesus
Existenz dieser Hochburg am Toten Meer Bekanntschaft schließen sollten. Der eine hieß Josef und war erst vor kurzem in Alexandria eingetroffen. Der andere, Joram, war leitender Rabbiner der großen Synagoge in Antiochia und soeben auf dem Seewege nach Jerusalem gelangt.
Joram war kein unbedeutender Mann, da seine Synagoge von der Elite der jüdischen Gemeinde von Antiochia besucht wurde, die aus etwa zweihunderttausend Männern, Frauen und Kindern bestand und eine der reichsten im ganzen Mittelmeerraum war. Zweimal im Jahr schickte Joram beträchtliche Geldsummen als Ergebnis seiner Kollekten — und manchmal auch als nicht ganz freiwillige Spenden — nach Jerusalem zur Finanzierung des Tempels. Er und seine Synagoge wa ren also für den hohen Klerus von Jerusalem durchaus ein Begriff, und wie so oft überbrachte er auch dieses Mal eine stattliche Pfründe, weshalb er mit entsprechend großem Prunk und Pomp empfangen wurde.
Joram brachte allerdings noch etwas anderes in seinem Reisegepäck mit, und zwar eine Frage, die der jüdische Klerus keineswegs als ein Geschenk empfand: Wer waren eigentlich diese Juden, die sich Essener nannten, und wie waren sie, einmal abgesehen von politischen Gesichtspunkten, im Rahmen der jüdischen Religion einzuordnen? Joram, ein Pharisäer, war über die Stimmung in Jerusalem gut genug im Bilde, um zu ahnen, daß seine Frage wie auch die Antwort, die man ihm geben würde, inoffiziell bleiben mußten, wenn er nicht unliebsam auffallen wollte. Er ahnte, daß diese Essener eine permanente Herausforderung waren, doch da sie weitab von den Zentren der jüdischen Theologie lebten, begriff er den Grund dieser Gereiztheit nicht. Um eine Erklärung dafür zu finden, brauchte er jemanden, der zwar den offiziellen Kreisen angehörte, sich jedoch genügend Freiheit in Wort und Geist bewahrt hatte, um ihm die Situation ungeschminkt zu erklären. Er wählte also einen Mann, dem er bereits in Antiochia begegnet war: einen reichen Kaufmann, der zwar dem Sanhedrin, dem Hohen Rat, nicht aber dem dort herrschenden Klüngel angehörte, der mächtig genug war, um gefürchtet, und intelligent genug, um geachtet zu werden. Er hieß Josef und stammte aus Arimathäa. Sobald es ihm möglich war, ließ Joram Josef eine mit aller Umsicht abgefaßte Mitteilung zukommen, in der er den Wunsch äußerte, im privaten Rahmen mit Josef über ein heikles Thema zu sprechen. Daraufhin erhielt er für den folgenden Sabbat eine Einladung zum Abendessen. Es war nur für zwei Personen angerichtet. Das Essensritual wurde genau eingehalten, jedoch ohne jede Großtuerei. Joram hatte die Erfahrung gemacht, daß Juden, die viel auf Reisen waren, ihrer Frömmigkeit auf schlichte Art und Weise Ausdruck gaben. Als sie sich vom Tisch erhoben, wo sie bisher nur einige Familienneuigkeiten ausgetauscht hatten, hob Josef den Kopf, als wolle er damit sagen: Nun, was gibt es?, und Joram begann vorsichtig, sein Anliegen darzulegen:
»Ich würde gerne deine Meinung hören zu einem Phänomen, das, wie ich annehme, nirgendwo verbreiteter ist als in Palästina, doch über das mir, fürchte ich, nur wenige in unseren Reihen vorurteilslose Auskünfte und ein unparteiisches Urteil bieten können.«
»Und über das«, fuhr Josef von Arimathäa fort, »die Angehörigen des Tempels unter Umständen ein verfälschtes Zeugnis ablegen könnten.«
»Ja, so kann man es ausdrücken, Bruder. Ich bewundere deinen Scharfsinn. Es handelt sich um die Essener. In Antiochia haben wir einige, sehr wenige allerdings, angetroffen. Mir wurde erzählt, daß sie außerhalb der Stadt leben, wenig kontaktfreudig sind und ein überaus tugendhaftes Leben führen.«
»Übertrieben tugendhaft, würde ich sagen«, meinte Josef.
»So ist es, ja, genauso ist es! Also, ich begreife schon einmal nicht, weshalb sie überhaupt in unsere Stadt gekommen sind. Gut, ich hätte mir nicht so viele Gedanken darüber gemacht, wenn nicht einige der ehrenwertesten Mitglieder unserer Gemeinde, diejenigen, die Griechisch sprechen und viel Umgang mit Philosophen, griechischen Philosophen natürlich, pflegen, seit einiger Zeit begonnen hätten, mir und anderen unausgesetzt von den Essenern zu erzählen. Wir haben in Antiochia, wie du vielleicht weißt, unter den Heiden eine Menge hochintelligenter Köpfe, gebildete Leute, die hier ein paar Erfahrungen bei den Ägyptern und dort bei den Asiaten gesammelt haben, und die mit den Namen von Buddha, Osiris, Mithra und Herakles um sich werfen,
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