Ein Mensch namens Jesus
geöffnet. Hier gab es Lebensmittel, Milchschweine und Lammfleisch, Hühner und Enten, Datteln und frische Feigen; auch Wein, Kleidung, Schmuck, Töpferwaren und Heilkräuter wurden zum Kauf angeboten. Ein Einbalsamierer feilschte unter seiner Tür mit drei Männern um den Preis und die Qualität seiner Dienste. Aus einem Laden strömte der Duft von starken Parfüms. In einiger Entfernung verprügelte ein Mann mit einem Stock einen anderen, der sich eigenartigerweise nicht wehrte.
»Ein Dieb«, erklärte Abraham. »Erwischt man einen von ihnen, muß er zwanzig Schläge über sich ergehen lassen, damit er nachher ein Viertel von dem behalten darf, was er gestohlen hat.«
Nichts gab es hier, an dem Josef keinen Anstoß genommen hätte; er war ganz benommen und angewidert. Wie sollte er in dieser gottlosen Stadt leben können! Als Abraham ihm die Tür seines Hauses zeigte, standen ihm Tränen in den Augen. Mit schwacher Stimme dankte er dem jungen Mann und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen.
V.
Die Heuschreckenfresser vom Toten Meer
Im Sommer steigen die Temperaturen an der Westküste des Toten Meeres ins Unerträgliche, so daß man zweifeln kann, ob man sich noch auf Erden befindet. Zwischen dem Jordan-Tal im Norden, der Moabitischen Hochebene im Osten, den Bergen von Judäa im Westen und der Wüste Arabah stellt das Tote Meer eine gewaltige Senke dar; seine Oberfläche liegt nahezu achthundert Ellen 6 unter dem Meeresspiegel. Die einzigen Winde, die hierher gelangen, sind die Südwinde aus der Wüste. Sie werden in diesem Brutofen eingefangen, wirbeln empor und erschöpfen sich zwischen dem metallisch weißglühenden Himmel und den bleigrauen Fluten des Meeres. Ihr Todeskampf erzeugt unmerkliche Schwingungen in dem bläulichen, gespenstischen Dunst, der über der Wasseroberfläche schwebt, so als könnten sich die bösen Geister von Sodom, das am südlichsten Punkt des Meeres gelegen hatte, nicht dazu entschließen, diesen Höllenschlund zu verlassen.
Nicht nur auf den Körper wirkt sich die Hitze aus, sondern auch auf den Geist. Gefühle, Bedürfnisse, Zuneigung und Haß, Zielsetzungen und Sehnsüchte — all das pflegt sich auf kurz oder lang zu verflüchtigen oder zu verglühen und in Asche zu zerfallen. Auf diese Reinigung folgt ein Gefühl beschwingter Losgelöstheit. Dann aber wird man sich bewußt, daß diese kurze Ekstase lediglich die Faszination der Leere war, und daß das Übermaß an Licht die materielle Welt eher verschleiert als enthüllt. Nichts in der Trostlosigkeit dieser Landschaft vermag das Auge zu erfreuen. Die Sinne werden abgetötet. Das Bewußtsein schaltet sich aus. Die Bewegung der Welt scheint innezuhalten. Die enormen, glühenden Gesteinsmassen, das leblose Wasser und die flirrendheiße Luft sind so weit entfernt von jeglicher Vorstellung einer Landschaft, daß man sich in einer anderen Welt glaubt. Das Bild, das man von sich hat, wird lächerlich, und der Gedanke an den Tod verliert seine beängstigende Macht. Eine andere Ahnung schwebt jenseits von allem und scheint doch gleichzeitig auch jedem Sandkorn innezuwohnen. Es ist nicht nur eine Idee, sondern vielmehr das niederschmetternde Erleben einer gewaltigen Vibration, die, wenn man sich ihr lange genug aussetzt, den Ballast der Gefühle und des Körpers auflöst, um ihn den dürstenden Felsen zu trinken zu geben; ein unvorsichtiger Wanderer würde so in den ekstatischen Schatten eines Sterblichen, in das Opfer einer stummen und fortgesetzten Explosion verwandelt. Es ist das Erleben eines großen Geistes, das Erleben Gottes.
Kein vernünftiger Mensch wäre auf die Idee gekommen, sich in dieser Gegend niederzulassen. Und doch kamen, fast hundert Jahre bevor der kaiserliche Legat das Volkszählungsdekret nach Palästina brachte und ein bedrängter neunzigjähriger Rabbi namens Josef nach Ägypten floh, eine Handvoll Asketen aus freier Entscheidung an das Westufer, um sich dort an einem Ort, der Qumran genannt wurde, niederzulassen. In ihrer quälenden Leblosigkeit war diese Landschaft für sie lediglich eine hauchdünne Haut, eine Membrane, die den Himmel von der Hölle trennte. Sie paßte ganz zu ihren strengen Vorstellungen von Selbstzucht. Die Leute nannten sich Essener.
Das Leben in Qumran ging noch seinen stillen, gewohnten Gang, als zwei Rabbiner, die nie zuvor Essener zu Gesicht bekommen hatten, jeder auf einer mehr oder weniger freiwilligen Reise, per Zufall, doch in unvergeßlicher Weise mit der
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