Ein Mensch namens Jesus
ist, kannst du mit Sicherheit davon ausgehen, daß du Amulette, manchmal sogar kleine Statuen findest, und zwar Bildnisse aus Gold von Baal und anderen Gottheiten, vorwiegend Fruchtbarkeitsgöttern. Vor allem die Frauen pflegen diese Kulte. Erst kürzlich hat eine Frau vor mir auf der Straße aus irgendeinem Grund auf den Bordstein springen müssen. Sie hat sich dabei ungeschickt angestellt, und irgend etwas fiel ihr aus dem Mantel. Als sie sich umdrehte, um es aufzuheben, sah sie mich, wurde über und über rot und ergriff die Flucht. Und weißt du, was da lag? Ein ägyptischer Phallus!«
Joram schüttelte ungläubig den Kopf.
»Nun gut, den Essenern also ist etwas gelungen, was für uns alle eigentlich vorteilhaft wäre: Sie haben in der Zeit einen Sprung zurück gemacht, zu dem Punkt in der Geschichte, als David noch der unbestechliche Herold des Gesetzes war — das ist es«, meinte Josef.
»Sie leben demnach für einen Traum«, folgerte Joram.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es einen Traum nennen würde. Auf jeden Fall zahlen sie für diesen Traum einen Preis, den die Juden heutzutage, fürchte ich, nicht akzeptieren würden: Angst und Beklemmung. Angst, weil sie ständig darauf gefaßt sind, daß die Sterne herabfallen und die Sonne verlöscht, und Beklemmung, weil sie sich unausgesetzt des einen oder anderen Verstoßes für schuldig halten; sei es, daß sie über einen Sektenbruder Schlechtes gedacht haben oder daß sie beim Gebet zerstreut waren, oder aber auch, daß sie nur jemanden beim Reden unterbrochen haben: Immer ist da ein Schuldgefühl.«
»Pedantische Leute, was?« bemerkte Joram.
»Ich würde eher sagen: krank vor Gewissensnöten. Sie wollen jederzeit für das Ende unserer Zeit bereit sein. Daher muß man auch eine lange Probezeit durchmachen, ehe man ihrer Gemeinschaft angehören darf: zwei Jahre. Das gibt einem reichlich Zeit, es sich noch einmal zu überlegen, falls einem die Prüfungen während dieser Monate zu hart erscheinen. So verzichtet der Novize beispielsweise am Ende des ersten Jahres auf die Nutzung seines gesamten Besitzes, nicht jedoch auf den Besitz selbst, den er erst am Ende des zweiten Jahres aufgibt, worauf dieser endgültig ins Eigentum der Gemeinschaft übergeht.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Leute in Antiochia so etwas hinnehmen würden!« rief Joram.
»Genausowenig wie die täglichen Riten der Essener; jede Menge und alles andere als bequem. Mindestens dreimal am Tag müssen sie beten, >bei Sonnenaufgang, wenn sie sich auf halbem Wege befindet, und wenn sie sich in ihr Haus zurückgezogen hat<, um sie zu zitieren. Allerdings hat mir ein Neubekehrter, der Qumran verlassen hatte, weil er die dortigen Zwänge nicht ertragen konnte, erzählt, daß die Essener in Wirklichkeit zehnmal täglich beten. Sogar nachts stehen sie zum Gebet auf, um dem Beispiel der Schutzengel zu folgen. Am Sabbat ist den Essenern nicht nur wie uns die Arbeit verboten, nein, sie dürfen sie nicht einmal erwähnen. Auch dürfen sie nicht mehr als tausend Ellen weit gehen, keine Erde umgraben und keine Steine bewegen. Deshalb haben sie auch nicht das Recht, an diesem Tag ihre natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen. An den übrigen Tagen der Woche gehen sie laut Vorschrift in die Wüste und graben dort mit einer speziellen Schaufel ein mindestens eineinhalb Fuß tiefes Loch, um sich zu erleichtern.«
»Ist denn das die Möglichkeit!« entfuhr es Joram.
»Wahrscheinlich ist der eigentliche Grund bei diesem merkwürdigen Verbot jedoch, daß ein Essener an diesem Ruhetag seinen Körper nicht beschmutzen darf. Was körperliche Reinheit angeht, sind die Essener sehr streng. Daher ist es einem Novizen auch untersagt, einen Älteren der Gemeinschaft zu berühren, und der darf wiederum den körperlichen Kontakt mit ihm nicht dulden. Die Aufnahmezeremonien beginnen typischerweise mit einem Bad, dem der Novize sich in Anwesenheit der Ältesten unterzieht. Von da an nimmt ein Essener alle Tage seines Lebens bei Sonnenuntergang ein Bad und zieht sich dann ein frisch gewaschenes, weißes Gewand an, das nur eine einzige Naht haben darf. Daraufhin begibt er sich zum gemeinschaftlichen Abendessen, das aus Brot, gerösteten oder gekochten, keineswegs aber schmackhaft zubereiteten Heuschrecken und Wein besteht. Jeglicher Verstoß gegen die Regeln wird bestraft, indem dem Sünder für einen ganzen Tag ein Viertel des Brotes gestrichen wird. Ich nehme an, du begreifst jetzt allmählich, weshalb die
Weitere Kostenlose Bücher