Ein Mensch namens Jesus
dergleichen nicht gerade von vielen in Jerusalem behaupten kann.«
»Mit anderen Worten«, meinte Joram, »es gibt hier also Leute, die auf die Essener wegen deren guten Rufes eifersüchtig sind.«
»So ist es. Aber da sind noch andere Gründe für die gegenseitige Abneigung, die ich vorhin erwähnte. Vor etwa hundertvierzig Jahren hatten die Essener einen, wie es scheint, sehr bedeutsamen Mann zum Oberhaupt, den sie Meister der Gerechtigkeit nannten. Der Ruf dieses Mannes, der nahezu wie ein Prophet verehrt wurde, ging weit über die Grenzen von Qumran hinaus und erregte Neid und Mißgunst unseres damaligen Königs, Alexander Jannai. Er ließ den Meister der Gerechtigkeit ausgerechnet am Tag der Versöhnung gefangennehmen, foltern und töten. Nachdem jener Alexander zugleich König und Hoherpriester war, nannten ihn die Essener den Schlechten Priester<. Nun gut, ihr Haß gegen Alexander Jannai hätte eigentlich mit dem Niedergang seines Geschlechtes abnehmen können, es stellte sich jedoch heraus, daß eine Vielzahl weiterer Priester an der verabscheuungswürdigen Verfolgung des Meisters der Gerechtigkeit beteiligt gewesen waren. Und deswegen wird uns Priestern in Jerusalem immer und ewig die Versöhnung mit den Essenern versperrt sein. Um die Worte der Essener selbst zu zitieren, die mir gut bekannt sind: >Alle Menschen, die in den Neuen Bund eingetreten, aber vom rechten Weg abgekommen sind, haben Verrat begangen und sich vom Quellwasserbrunnen abgewandt. Sie gehören fortan nicht mehr zum Volke, und ihre Namen werden von den Listen gelöscht sein, vom Todestage unseres obersten Meisters an bis zur Ankunft der Erlöser Aarons und Israels.< Tja, so sieht es aus, mein Freund. Ihr Groll steht bis ans Ende aller Zeiten in den Fels gemeißelt.«
»Du kennst ihre Schriften auswendig?« erkundigte sich Joram neugierig.
»Ja, sie wurden mir oft genug vorgelesen oder vorgetragen, als ich zu ergründen versuchte, weshalb uns die Essener so hassen.«
»Und heute?«
»Was meinst du damit? Wir bemühen uns eben nach besten Kräften, ihren Groll nicht wieder zu schüren.«
»Ich würde also gut daran tun, sie uns in Antiochia vom Leibe zu halten?«
»Wenn dir das möglich ist, ja. Doch für euch in Antiochia stellen sie eine weit geringere Gefahr dar als für uns hier. Ist dir aufgefallen, wie drohend sich das anhört: >die Erlöser Aarons und Israels Diese Worte bedeuten, daß die Erlöser weltliche und geistliche Herrscher sein werden, und da man annimmt, daß sie gemeinsam auftreten werden, ergibt sich daraus der Schluß, daß sie in einer einzigen Person vereint sein werden. Wenn ein solcher Messias auftaucht, wird er augenblicklich mit Herodes dem Großen und den Römern in Konflikt treten. Es wird Volksaufstände geben und ein Blutbad nach dem anderen.«
»Du bist also nicht gerade wild darauf, diesen Messias bald in eurer Mitte zu sehen?«
»Ich wüßte nicht, dergleichen gesagt zu haben! Aber vielleicht bist du es, der nicht sonderlich darauf erpicht ist?« entgegnete Josef von Arimathäa mit einer gewissen Heftigkeit. »Glaubst du denn, es kann mit uns so weitergehen?«
»So schlimm sind wir ja nun auch wieder nicht«, meinte Joram. »Nein, das wohl nicht. Aber unser Volk ist ursprünglich vom Glauben geformt und zusammengeschweißt worden, während es heute nur noch dank des Geldes und der Angst vor den Römern existiert. Du darfst die Macht der Religion und des Stolzes nicht unterschätzen. Wir sitzen auf einem Vulkan.« Josef von Arimathäa stand auf, um im Raum auf und ab zu gehen.
»Verzeih die Frage, aber wie kannst du deine Klarsicht mit deiner Zugehörigkeit zum Hohen Rat in Einklang bringen?« fragte Joram. »Ich bin nicht der einzige im Sanhedrin, der so denkt«, murmelte Josef. »Und nur weil ich zufällig der herrschenden Oberschicht angehöre, muß ich noch lange nicht mit Blindheit geschlagen sein. Ich habe die Bücher gelesen wie viele andere auch.«
»Und was wirst du tun, wenn ein Messias kommt?«
»Was meinst du wohl?« setzte ihm Josef mit einem feinen ironischen Lächeln entgegen.
Joram rutschte unbehaglich auf seinem Diwan hin und her und fuhr sich mehrmals mit der Hand durch den Bart. »Ich«, murmelte er, »ich habe immer geglaubt, in Antiochia könne uns rein gar nichts passieren... Hast du gehört, was die Astrologen verkünden? Ganz Antiochia ist in Aufruhr wegen ihrer Vorhersagen.«
»Ja, ich habe es gehört.« Josef von Arimathäa nickte. »Auch Herodes hat es gehört, der
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