Ein Mensch namens Jesus
Meeresgrund gesunken waren, zu retten. Und vielleicht weißt du auch, daß die Priester seines Kultes später des Opfers feierlich gedachten, indem sie rituell das rohe Fleisch eines Stieres aßen...«
»Aber das ist doch reine Mythologie!« rief Ion, während er begehrliche Blicke nach dem Stand eines Süßwarenhändlers warf.
»Die Priester, die rohes Stierfleisch aßen, gehörten durchaus zur Wirklichkeit. Und ich glaube nicht, daß Sophokles den Kannibalismus so ausführlich erwähnt hätte, wenn er lediglich eine Erfindung gewesen wäre. Denk doch nur an die Opferfeste in seiner Schrift >Die Kreter »Ja«, sagte Ion, »das waren kannibalische Veranstaltungen. Ich finde das alles erniedrigend.«
»Ich nicht«, erwiderte Eukrates nachdenklich. »Das soll nicht heißen, daß ich Menschenfleisch essen würde. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es nicht tun würde, wenn ich in einem Land aufgewachsen wäre, wo es als Privileg oder Pflicht gilt. Oft muß man erst auf den Geschmack kommen.«
Sie ließen das Tempelviertel hinter sich. Das Straßenpflaster sah nun weniger gepflegt aus. Die Rinnsteine quollen über, so daß die beiden Griechen häufig ganze Bäche von Schmutz und Kot überspringen mußten.
»Zu viele Menschen, zuviel Unrat«, bemerkte Eukrates.
»Reiten wir doch aufs Land!«
»Dort erwartet uns nichts, was interessant und neu wäre. Überall in der Welt sieht es auf dem Lande gleich aus. Nein, ich bin nach Jerusalem gekommen, um mehr über die Juden zu erfahren.«
»Und was weißt du von ihnen nach dieser einen Woche, die wir hier sind?«
»Es wäre ziemlich arrogant von mir, das alles einfach zusammenzufassen. Aber es sind Leute von ungemein großem Stolz. Dieser gründet auf einer weit zurückreichenden und ruhmvollen Vergangenheit. Sie dulden die Römer nur, weil sie keine andere Wahl haben, ihre Kultur aber verträgt sich mit der Roms nicht. Also sind sie unzufrieden. Zudem ist ihr Klerus ganz offensichtlich korrupt. Wenn das bereits ich innerhalb weniger Tage gespürt habe, braucht man wohl kaum daran zu zweifeln, daß die Juden selbst es viel stärker und schon viel länger empfinden. Ein Aufstand dürfte demnach unausweichlich sein.«
»Das wäre Wahnsinn. Die Römer haben jede Menge Truppen hier!«
»Unterschätze nicht den Mut, oder wie es dir zu sagen beliebt, den Wahnsinn, den der Glaube bewirken kann«, versetzte Eukrates, »vor allem, wenn er durch den Stolz der Massen angefacht wird.«
»Aber dieser römische Offizier, mit dem wir gestern abend gegessen haben, hat doch gesagt, daß es bereits Revolten gegeben hat und daß sie gescheitert sind.«
»Das hat wenig zu bedeuten. Die Juden sind nicht gezähmt und werden es meiner Ansicht nach nie sein. Warte nur, bis sie einen Anführer gefunden haben und den Römern dann wirklich zu schaffen machen! Ein Volk von Propheten ist das. Wenn die Zeit reif ist, werden sie einen hervorbringen, der an eine Wiederkehr des Gesetzes appelliert, und schon ist die Erhebung da.«
»Die Priester werden einen solchen Anführer jedoch nicht gerade mit offenen Armen empfangen«, meinte Ion.
»Hast du Durst? Ich sehe dort drüben einen Händler, der süße Zitronen verkauft«, unterbrach ihn Eukrates. Er rief den Mann herbei und kaufte ihm ein halbes Dutzend dieser Früchte mit ihrer blassen, wächsernen Schale ab, reichte drei davon Ion und machte sich gleich daran, mit seinem Reisemesser eine zu schälen. »Wie du so schön sagst«, nahm er das Gespräch wieder auf, »die Priester werden diesen Propheten nicht mit offenen Armen empfangen — die weißen Häutchen zwischen den einzelnen Spalten mußt du übrigens entfernen, sie sind bitterdoch ist es das Los aller Helden, die Feindseligkeit irdischer Mächte auf sich zu ziehen. Nimm nur den Fall unseres Herakles! Nachdem er die Welt von Ungeheuern wie den eisengeschnäbelten Vögeln am See Stymphalos, dem wilden Erymanthischen Eber, der Hydra im Sumpfe Lema und dem Nemeischen Löwen befreit hatte, wurde er von seiner eigenen Ehefrau Deianeira mit Hilfe einer Tunika vergiftet, die sie in das Blut des Kentauren Nessos getaucht hatte. Herakles’ Qualen waren so unerträglich, daß er beschloß, seinem Leben auf dem Scheiterhaufen ein Ende zu machen. Er war ein Halbgott, da ihn Zeus persönlich mit der Sterblichen Alkmene gezeugt hatte, und doch läßt ihn Sophokles vor seinem Tod folgende letzte Worte an seinen Vater richten: >O
Weitere Kostenlose Bücher