Ein Mensch namens Jesus
Beschimpfungen des Magiers ebenso gebannt folgte wie seinen Kunststücken, rief er: »Liebe Leute, ich weiß euch Neuigkeiten zu berichten! Vor einem Jahr hat dieser Rabbiner Huschai dem Hohenpriester von Jerusalem eine Bittschrift zugesandt. Er bat ihn um Geld, um das einstürzende Dach der Synagoge wieder instand setzen zu lassen, weil die Leute von Kursi zu arm seien, um die Reparaturen zu bezahlen. Nun, vor etlichen Tagen — nicht wahr, Huschai? — schickte ihm der Hohepriester fünfzehn Sesterzen zur Finanzierung der Reparaturen, wobei er betonte, daß diesmal das Geld für die Ausbesserungsarbeiten verwendet werden solle, und nicht für den Ankauf von Weizen, der im Falle einer Hungersnot zum vierfachen Preis wiederverkauft würde. Wurden die Ausbesserungsarbeiten begonnen, liebe Leute? Ich frage euch. Nein? Dann könnt ihr mir aber glauben, daß sie unverzüglich in Angriff genommen werden. Geh, Huschai, hole die Zimmerleute, die Zeit drängt! Nun, liebe Leute, das genügt. Und nun mein Geld, ansonsten...« Er erhob sich.
Der Vater des Sohnes trat auf ihn zu. »Ich habe diesen Betrag nicht und kann mir das Geld auch nicht ausleihen«, sagte er. »Nimmst du zwei Gänse an? Das ist alles, was ich habe.«
Der Magier runzelte die Stirn.
»Übst du dein Handwerk nur gegen Geld aus?« fragte nun Jesus. »Wenn das der Fall ist, weißt du ja, daß jeder Mensch seinen Preis hat. Die Reichen können mehr bezahlen als die Armen. Und das hier ist ein armes Dorf.«
Aristophoros blickte Jesus aus seinen runden und schlauen Augen an. »Und du, wer bist du denn? Du bist natürlich nicht von hier, denn du verfügst über einen gesunden Menschenverstand. Nun gut, ich nehme die Gänse.«
»Brauchst du wirklich zwei Gänse?« fragte Jesus lächelnd. »So ein Gepäck hinten auf deinem Reittier wird deiner Erscheinung nicht gerade schmeicheln. Du wirst wie ein syrischer Händler aussehen.« Aristophoros brach in schallendes Gelächter aus. »Du wirst mich noch um mein letztes Hemd bringen!« sagte er. »Und doch, vielleicht lohnt es sich, es gibt so wenige Menschen, mit denen man sich gern unterhält. Nun denn, ich nehme eine Gans und gebe dir die andere.« Er hielt die beiden Gänse an den Beinen über seinen gewaltigen Bauch und übergab eine davon Jesus, der sie an den Vater des Jungen weiterreichte. Dieser küßte ihm die Hände.
»Das hatte ich befürchtet«, spöttelte Aristophoros. »Dabei nehme ich an, daß du nur altbackenes Brot in deinem Bettelsack hast. So, und was nun?«
»Ich möchte ja keinen Nutzen aus der Situation ziehen«, sagte Jesus, »aber wenn du schon so großzügig bist, könntest du diesen Mann bitten, uns deine Gans zu braten; das gäbe für alle ein gutes Mahl ab.« Aristophoros kniff die Augen zusammen, um Jesus genauer anzusehen, und schwor, daß er nie wieder den Fuß in ein armes Dorf setzen werde.
»Jedenfalls jagen die Löwen nur dann die Mäuse, wenn sie ausgehungert sind«, bemerkte Jesus, dem Aristophoros die Gans aushändigte. »Sag deiner Frau, sie soll sie mit Knoblauch spicken und braten«, wandte er sich an den Bauern.
Der Junge, der sein Augenlicht wiedererhalten hatte, sah die beiden Männer von der Seite blinzelnd an.
»Wasche dir heute abend die Augen noch einmal mit sauberem Wasser aus!« wies ihn Jesus an. »Und wiederhole das dann jeden Tag!«
»Komm, setzen wir uns unter diesen Pflaumenbaum«, sagte der Magier. »Die Sonne sticht. Der Wein in diesem Land muß abscheulich sein.«
»Wie kommt es, daß du so gut über die Machenschaften des Rabbiners Bescheid weißt?« erkundigte sich Jesus.
»Dieser Geizkragen! Ich habe mich mit einem Rabbiner aus Betsaida angefreundet — er ist ebenfalls ein Geizkragen, aber viel schlauer — , indem ich ihm Geld zusteckte, um in seiner Stadt meinen Beruf ausüben zu können. Und dann, bei Tisch, habe ich mir seinen Klatsch angehört. Was sind diese Priester doch für Schwätzer! Jetzt kenne ich die Geheimnisse einer jeden Stadt rund um den See Gennesaret. Jenem Rabbiner, einem gewissen Zacharias, ist also Huschai verhaßt, weil er mit ihm ein Hühnchen zu rupfen hatte, und er erzählte mir die Geschichte mit den fünfzehn Sesterzen. Und du, wie heißt du eigentlich? Woher kommst du?«
»Jesus. Ich bin der Sohn eines Zimmermanns aus Kafarnaum und stamme ursprünglich aus Bethlehem. Ich selbst bin Zimmermann. Ich habe Kafarnaum vor kurzem verlassen.«
»Du kommst also aus Judäa und hast dich in Galiläa niedergelassen?« bemerkte
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