Ein Mensch namens Jesus
zu schlafen, befindet sich aber anderswo und kann auf diese Weise vor weit entfernten Menschen erscheinen. Es gibt übrigens Menschen, die diese Fähigkeit von Natur aus besitzen, ohne sie sich erst aneignen zu müssen.«
Jesus wirkte sehr überrascht.
»Das ist das Problem mit Leuten wie Dositheus. Sie liegen nicht gänzlich falsch. Manche Menschen verfügen tatsächlich über bestimmte Fähigkeiten, das habe ich selbst festgestellt. Aber welcher Bezug zwischen diesen Fähigkeiten und dem Herrn besteht? Ich weiß es nicht.« Er blickte den jungen Mann fragend an und stellte fest, daß dessen Verwirrung wuchs. »Du zum Beispiel verfügst womöglich über solche Fähigkeiten. Schließe die Augen und strecke die Hände dem Feuer entgegen, mit dem festen Willen, es zu löschen! Versuch es nur!« Verunsichert wie nie zuvor, schloß Jesus die Augen. Sein Geist konzentrierte sich auf das Feuer und dann, nach einer Weile, auf die Notwendigkeit, es zum Erlöschen zu bringen. Lange Zeit hielt er so die Hände ausgestreckt.
»Öffne die Augen!« befahl Obed.
Ein paar spärliche Flammenzünglein zuckten eben ein letztes Mal empor. Obed warf ein wenig Reisig darauf und blies in die Glut, um das Feuer zu schüren. Es flackerte wieder auf.
»Ich hatte recht«, nickte er. »Aber man sollte dies nicht wiederholen, um die Leute in Erstaunen zu versetzen. Gebrauche deine Fähigkeiten nur im Namen des Herrn! Du wirst müde sein. Schlaf jetzt!« Völlig verstört breitete Jesus seinen Mantel auf dem Boden aus und legte sich hin.
Er erwachte im Morgengrauen und ging wieder zur Quelle. Dann erklärte ihm Obed ganz genau den Weg zu Dositheus.
»Du bist fest entschlossen, ihn kennenzulernen. Dann geh also«, sprach er mit gesenktem Blick. »Vielleicht ist es ja auch gar nicht so gefährlich. Aber vergiß folgendes nicht, mein Sohn: Die Seele eines Menschen erhebt sich immer höher als die Seelen zweier Menschen, und die zweier Menschen wiederum höher als die von dreien. Denk auch daran, daß der Dämon verschiedene Gesichter trägt!«
Keine Umarmung, keine Gefühlsregung, und ohne sich noch einmal umzublicken, kehrte Obed nach diesen warnenden Worten in seine Höhle zurück.
Es war ein verschlungener Weg, den ihm der Eremit gewiesen hatte, und, wie es Jesus schien, voller Schlammlöcher. Dieser Mann war also ein Essener wie sein Vetter Jokanaan. Oder genauer: Er war keiner mehr. Wie konnte man sein Essenertum plötzlich ablegen? Und wenn er doch kein Essener, sondern ein Zelot war? Oder der Teufel? Und diese Lebensweise! Was wohl Josef davon gehalten hätte? Und was er über die Fähigkeiten und Kräfte erzählt hatte, wie sollte man das nun wieder verstehen? Durch die Luft fliegen, nein so etwas! Hatte er selbst wirklich das Feuer mit seinen Händen beinahe zum Erlöschen gebracht? Er ärgerte sich gerade über sein Unvermögen, eine Antwort auf all diese Fragen zu finden, als er an den Rand eines von Obed erwähnten Orangenhains gelangte. Mistgestank und Blütenduft lagen im Wettstreit miteinander. Bienen summten und flogen emsig umher. Jesus erblickte eine Ansammlung von Menschen und näherte sich ihnen. Frauen und Männer saßen im Kreis im Gras und aßen. Verblüfft blieb er in einiger Entfernung stehen. Er konnte erkennen, was sie aßen: Salatblätter, Karotten und grüne Lupinensamen. Man wurde auf ihn aufmerksam. Ein etwa vierzigjähriger, magerer und braungebrannter Mann mit langen Haaren sprach ihn auf griechisch an.
»Ich spreche nicht gut Griechisch«, antwortete Jesus auf aramäisch. »Ich habe dich eingeladen, näher zu kommen«, wiederholte der Mann mit ruhiger, selbstsicherer Stimme in Aramäisch. »Wie heißt du? Ich bin Dositheus.«
Er hatte also ganz richtig geraten und, während er seinen Namen nannte, musterte er Dositheus, der ihm zulächelte. Rötlicher Bart, blaue Augen. Blut des Nordens und des Südens floß offensichtlich in seinen Adern.
»Du bist nicht aus Zufall hierher gekommen, nicht wahr?« meinte Dositheus. »Setz dich!«
Jesus setzte sich auf einen freien Platz in der Runde neben ein junges Mädchen mit dunklen Augen, das ihn neugierig ansah.
»Ich erfuhr deinen Namen von einem Magier, dem ich vor einigen Tagen begegnete, von Aristophoros«, erwiderte Jesus.
»Aristophoros!« rief Dositheus. »Dieser arme Trödler des Unendlichen! Wie geht es ihm denn?«
»Ein Kummer zermürbt ihn, ansonsten aber ist er recht redselig.«
»Verräter und Helfershelfer eines Verräters«, murmelte eine Frau.
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