Ein Mensch namens Jesus
Happen in den Mund. Lächelnde Blicke und Zärtlichkeiten waren ihre Antwort. War sie vielleicht die Nachfolgerin jener Frau namens Luna? Er versuchte sich vorzustellen, daß er selbst eine Frau so fütterte, doch es gelang ihm nicht. Wie ungeniert sich diese Leute benahmen! Einerseits bezauberte ihn ihre Ungezwungenheit, andererseits nahm er aber auch Anstoß daran. Er hatte sich darauf gefaßt gemacht, einen gestrengen Herrn inmitten einer Jüngerschar mit sorgenvollen Gesichtern vorzufinden, und nun traf er hier einen heiteren Mann mit Sinn für die Freuden des Lebens, umringt von Menschen, die offensichtlich glücklich waren und sich ein vergnügtes Stelldichein in einem Obstgarten gaben. Lebten sie etwa alle zusammen in einem Haus? Nein, welch ein verwerfliches Durcheinander! Und wer waren diese Frauen? Ehefrauen, Schwestern, Schülerinnen, Hetären? Gab es eine Hierarchie unter ihnen? Da sie Griechisch sprachen, konnte er den Unterhaltungen nur mühsam folgen. Dositheus schien einige dieser Fragen erraten zu haben, denn er kam plötzlich darauf zu sprechen, daß sein Haus allen, die sich seiner Lehre anschließen wollten, offenstehe. Es sei nicht unbedingt notwendig, materielle Gaben zu spenden, jeder zahle nach seinen Möglichkeiten, und außerdem stamme der größte Teil der Nahrungsmittel aus einem Bauernhof, der mit seinem Gemüse- und Obstgarten und seinem Hühnerhof zum Haus gehöre.
»Du warst sicher überrascht, daß auch Frauen unter uns sind«, fügte Dositheus hinzu. »Ich weiß ja, daß für euch Juden die Frauen unreine, ja fast seelenlose Geschöpfe sind. Sie sind für euch nichts als Dienerinnen und bloße Gebärvorrichtungen, um nicht zu sagen Sklavinnen.«
Er sprach in beinahe anklagendem Ton, und Jesus wußte dem nichts entgegenzuhalten.
»Aber ich, der ich halb Epheser, halb Athener bin, habe mir die Freiheit herausgenommen und es zugleich auch als meine Pflicht erachtet, den Frauen den Platz zuzugestehen, der ihnen gebührt. Wie hätte es auch anders sein können! Ist nicht Ephesus das Hauptzentrum der Artemisverehrung? Und haben die Griechen nicht Göttinnen wie Aphrodite, Hera und Psyche ganz besonders wichtige Rollen zugewiesen? Wie kann man eine Gesellschaft als gerecht erachten, wenn einer Hälfte dieser Gesellschaft jegliche Daseinsberechtigung abgesprochen wird? Was sagst du dazu, mein Sohn? Würdest du deine Mutter als Sklavin bezeichnen? Würde dir der Gedanke, der Sohn einer Sklavin zu sein, nicht bitter aufstoßen?« Mit seinem Glas in der Hand sah er Jesus herausfordernd an.
Jesus errötete, aber wieder wußte er nichts zu entgegnen. Dieser Magier hatte ihn soeben elternlos gemacht. Jahrhunderte schienen seit dem Tod Josefs vergangen zu sein. Und Jerusalem lag für ihn in unendlicher Ferne.
»Hast du vor, bei uns zu bleiben?« fragte Dositheus. »Dann sag mir, wonach du suchst!«
In der Schar wurde es still, alle wollten erfahren, was der Neuankömmling suchte.
»Ich bin Jude, und mein Volk ist in Knechtschaft geraten«, antwortete Jesus mit niedergeschlagenen Augen. »Seine Führer haben es verraten, und die Hüter unseres Gesetzes wachen nur mehr über Worte, die ihren Sinn verloren haben.«
»Und was gedenkst du zu tun?« wollte ein junger Mann wissen. »Willst du einen Aufstand vom Zaun brechen? Bist du ein Zelot?«
»Nein. Ich glaube nicht, daß wir mit Hilfe bewaffneter Revolten unsere Unabhängigkeit wiedererlangen können. Die Macht der Römer ist viel zu groß. Und selbst wenn ein Aufstand der fünf Provinzen die Römer verjagen könnte, bliebe es meiner Ansicht nach immer noch fraglich, ob uns das wieder zu unserer Tugend verhelfen würde. Doch auch wenn die Römer bleiben, muß es möglich sein, zu dieser Tugend zurückzufinden.«
»Suchst du hier das nötige Rüstzeug, um der Tugend wieder ihren Stellenwert zu verschaffen?« fragte der junge Mann.
Was sollte er darauf antworten? Das Buch, das er brauchte, war nicht geschrieben. Oder aber er kannte die Bücher nicht gut genug. »Vielleicht seid ihr hier im Besitz der Wahrheit«, entgegnete er, »vielleicht besitzt ihr auch nur einen Teil davon. Aber selbst wenn ihr nur ein kleines bißchen Wahrheit gefunden hättet, würde ich mir daraus eine Waffe schmieden.«
Dositheus schwieg und schien in den Anblick seiner Zehen versunken.
»Ich bin Samariterin«, meldete sich daraufhin die junge Frau neben Jesus zu Wort, »und ich kenne euch, euch Pharisäer und Sadduzäer, ich kenne eure Glaubenslehren ebenso wie
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