Ein Mensch namens Jesus
»Seien wir ihm dankbar«, entgegnete Dositheus, »denn im Grunde hat er sich selbst verraten und uns sein wahres Wesen enthüllt. Daß er zu seiner Niedertracht steht, zeugt in meinen Augen von Mut. Hätte er uns nicht verlassen, wäre er etwas weit Schlimmeres gewesen, ein Heuchler nämlich.«
Jesus zog die Augenbrauen hoch, aber es erwarteten ihn noch weitere Überraschungen, denn Dositheus fuhr fort: »Es gibt übrigens keinen Verrat im eigentlichen Sinne des Wortes. Ich würde sogar sagen, daß gerade diejenigen, die niemals Verrat begehen, mit Vorsicht zu genießen sind, es sei denn, sie sind geistig besonders träge. Wer hat nicht mindestens einmal in seinem Leben seine Vorsätze geändert?« Sein Blick ruhte beinahe aufdringlich auf Jesus.
»Heißt das also«, entgegnete dieser, »daß es weder Gut noch Böse gibt? Wenn die Treue der Verräter mit der Treue derjenigen, die keine Verräter sind, auf eine Stufe gesetzt wird, wo bleibt dann das Gesetz?« Dositheus schüttelte den Kopf. Seine Gefährten beobachteten den Neuankömmling mit mißtrauischen Blicken.
»Das Gute und das Böse«, fuhr Dositheus fort, »wie schnell das gesagt ist! Du bist Jude, nicht wahr? Und was ist für dich das Böse? Der Gehorsam gegenüber dem Teufel. Aber was ist denn der Teufel? Der Engelsfürst, der gefallene Engel, dem Gottes Gnade nicht mehr zuteil wird. Aber jener Gott ist, gemäß den jüdischen Propheten, die Liebe. Steht nicht bei Jeremias geschrieben: >Ich bin der Herr / Meine Liebe ist grenzenlos Wie kann man also glauben, daß Gott am Jüngsten Tag seinem in Ungnade gefallenen Diener, dem Teufel, nicht vergeben wird? Wer sind wir denn, daß wir dem Urteil Gottes vorgreifen und denen, die nicht derselben Sache dienen wie wir, Strafen und Leiden auferlegen? Zeugt das nicht von Arroganz? Hat nicht genau diese Sünde Luzifer aus seinen himmlischen Gefilden in die höllischen Abgründe stürzen lassen? Ich frage dich also, Jesus, in wessen Namen sollte ich Aristophoros verurteilen?«
War das Leben denn nichts als eine lange Prüfung? Wieder befand er sich im Tempel, und alle warteten auf seine Antwort.
»Ohne das Wort des Herrn«, sagte er, »könnten wir uns hier gegenseitig umbringen, ohne daß uns deswegen irgend jemand verurteilen dürfte, Diebe wären genauso ehrbar wie anständige Leute.«
Die anderen hatten im Essen innegehalten.
»Ausgezeichnete Antwort«, bemerkte Dositheus lächelnd. »Sie bringt in wenigen Worten zum Ausdruck, daß das Sittengesetz ein Gesetz der Menschen ist. Es ist dazu bestimmt, die Menschen zu schützen.« Seine Stimme klang gelassen; er strahlte eine unerschütterliche Sicherheit aus. »Und du«, begann er nach einer Weile wieder, »glaubst du, deinem Gesetz treu zu sein, wenn du dich nach Samarien wagst, um einen fremden Lehrer anzuhören? Was zieht dich hierher?«
Er würde also immer und ewig ein Fremder bleiben!
»Die Verfechter unseres Gesetzes sind vom Weg abgekommen«, antwortete er und versuchte dabei, ebenfalls einen gelassenen Ton zu wahren. »Ich halte mich daher für berechtigt, frei meinen Weg zu suchen. Aristophoros sagte mir, du seist ein großer Meister, vielleicht sogar ein Prophet. Ich bin gekommen, um dir zuzuhören.«
»Du bist willkommen«, erwiderte Dositheus.
Sein Blick war offen und freimütig. Solch einem Mann konnte man in Kafarnaum nicht begegnen.
Ein junger Mann, der neben Jesus saß, bot ihm Salat und Karotten an. Dositheus bat, man solle nun das Mittagessen auftragen. Frauen und Jünglinge holten Tabletts, auf denen verschiedene Leckereien angerichtet waren: Fleischpastetchen mit Pinienkernen, gebackener Käse, Bällchen aus Reis- und Fischteig, Zwiebeln, Schalen voll Linsen, Mandel- und Honigkuchen sowie kandierten Apfelsinenschalen. Man stellte die Speisen in die Mitte der Runde ins Gras, und die Schüler achteten darauf, daß der Gast auch von jedem Gericht zu kosten bekam. Zudem schleppte man noch etliche Krüge mit frischem Wein und gläserne Trinkbecher herbei, wie man sie nur in den reichsten Häusern Kafarnaums vorfand; auch bemalte Trinkschalen wurden gebracht, die, wie man ihn aufklärte, aus Griechenland kamen. »Dositheus ist vermögend«, bemerkte Jesus.
»Die Fürsten hören ihn an«, erklärte der junge Mann, der die Rolle seines Betreuers übernommen hatte. »Sie zeigen sich ihm gegenüber recht großzügig. Aber Dositheus besitzt nichts.«
Ein Mädchen setzte sich zu Dositheus, und er steckte ihr mit der Hand ein paar leckere
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