Ein Mensch namens Jesus
du schon einen Gott hast? Genügt dir dieser Gott nicht?«
»Er möge dir diese Gotteslästerung verzeihen«, entgegnete Jesus. »Ich suche ihn, weil mein Volk vom rechten Weg abgekommen ist, weil seine Priester ihren Herrn nicht mehr achten und weil wir einen neuen Propheten brauchen. Ich möchte wissen, ob dieser Dositheus vielleicht der erwartete Prophet ist.«
Er hatte es vermieden, das Wort Messias zu gebrauchen. Aber der alte Mann war feinsinniger, als er dachte. Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite, als wolle er ein Lächeln verbergen. »Wenn ich auch Idumäer bin«, murmelte er, »so kenne ich doch dein Volk. Ihr wartet auf einen Messias, und ich schließe daraus, daß du dich vergewissern willst, ob Dositheus dieser Messias ist oder nicht, stimmt’s?«
Die Schatten der Bäume tanzten um sie her.
»Ja, so ungefähr«, gab Jesus zu.
»Und würde der Messias etwas an der Tatsache ändern, daß dein Volk sich verirrt hat?«
»Er würde es erlösen.«
Der Buddhist nickte, allerdings ohne große Überzeugung. Dann musterte er den jungen Unbekannten, als wolle er aus der Gesamtheit der Merkmale, die einen Menschen ausmachen, den Fehler herausfinden, der sich dort eingeschlichen hatte.
»Ich kenne diesen Dositheus«, bemerkte er endlich. »Er ist nicht der, den du suchst. Er ist ein Magier, der Glaubenslehren verkündet, die den deinen fremd sind. Und er wirkt Wunder.«
»Wunder?«
»O ja, Wunder. Zum Beispiel schlägt er zwei Metallstäbe gegeneinander, und ein Blitz zuckt auf. Aber wer braucht schon Wunder? Nur Leute ohne Glauben!« Er schien plötzlich das Interesse an der Unterhaltung zu verlieren und fügte hinzu: »Aber es tut mir leid, ich kann dir nicht sagen, wo er sich aufhält.« Daraufhin entfernte er sich. Jesus erkundigte sich mehrmals nach Dositheus; man schickte ihn schließlich zu einem Eremiten namens Obed, der, wie es hieß, in einer Höhle am Fuße des Berges Ebal hauste, und von dem die Leute behaupteten, er besitze alles Wissen der Welt.
Von ferne gesehen, wirkte Obed kaum wie ein menschliches Wesen. Er war fast nackt, seinen Kopf umwallte eine gewaltige Mähne, und als Jesus den Pfad einschlug, der zu seiner Behausung hinaufführte, stand er über den Boden gebeugt da und beobachtete dort unten etwas. Er hob seinen Blick und ließ ihn auf Jesus ruhen, bis sich beide gegenüberstanden. Obeds Augen hatten einen klaren und leeren Ausdruck.
»Du wirst aus dem Kelch deiner Schwester trinken«, deklamierte er mit hoher, fast eunuchenhafter Stimme. »Einem großen und tiefen Kelch / Gefüllt mit Verachtung und bitterem Hohn / Mehr als jemals ein Kelch davon enthalten wird / Voll Trunkenheit und Kummer wird er sein...«
»... Ein Kelch voll Unglück und Zerstörung / Der Kelch deiner Schwester Samaria / Und du wirst ihn bis zur Neige leeren / Dann wirst du die Scherben zerbeißen und dir die Brust aufreißen«, fuhr Jesus fort.
Da es Abend wurde, brannte in der Höhle ein Feuer, das das Profil des Einsiedlers in rotes Licht tauchte.
»Willkommen, mein Sohn! Du bist nicht hierher gekommen, um mich zu sehen. Dafür bist du zu jung. Du suchst etwas.«
»Gibt es denn überhaupt jemanden, der nichts sucht?« fragte Jesus. Die Kröten begannen zu unken, Fledermäuse taumelten in den Himmel, zuckend wie Seelen, die das Jüngste Gericht verpaßt haben. »Die jungen Leute suchen ein Geheimnis, und die Greise sind traurig, weil sie keines gefunden haben. Aber es gibt kein Geheimnis.«
Er ging in die Höhle, die er in gutem Einvernehmen mit einem Igelpärchen zu teilen schien. Jesus blieb am Eingang stehen. Der Eremit warf Holz ins Feuer.
»Komm nur herein!« forderte er ihn auf und setzte sich auf den Boden. Das Feuer flackerte, dunkle Zungen reckten sich zum Höhlengewölbe empor. Obed sah Jesus unverwandt an.
»Die Dämonen suchen dich zu fassen«, sagte er fast traurig. »Nicht umsonst sind sie so unruhig.«
Er strich zwei-, dreimal mit den Händen über das Feuer, das sich beruhigte und nun heller leuchtete. Schwarzer Rauch qualmte aus der Grotte.
»Sie sind abgezogen«, bemerkte Obed, »sie haben es nicht gern, daß man sie erkennt. Wie heißt du?«
»Jesus.«
»Josua. Alle Namen ändern sie um in den Städten.«
Die Igel trippelten zum Höhleneingang, sie begaben sich auf Nahrungssuche.
»Du suchst Dositheus«, sagte Obed nach langem Schweigen. »Woher weißt du das?«
»Ich habe schon öfter welche wie dich gesehen. Aber du solltest ihn um diese Zeit besser nicht aufsuchen.
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