Ein Mensch wie Du
Sandra die Hand beim Aussteigen zu reichen, drückte es sich tiefer in den Schatten der Nische und beobachtete, wie die beiden lachend und sich unterhakend im Inneren des Bühnenhauses verschwanden.
Greta Sanden stand noch eine Weile verborgen in ihrem Türbogen, ehe sie langsam über die Straße ging und an den großen weißen Wagen herantrat. Sie blickte hinein. Ein Paar weiße Damenhandschuhe lagen auf den roten Polstern, auf dem Hintersitz lag Franz' Ledertasche, die sie gemeinsam in Köln zwei Tage vor der Abreise gekauft hatten. Neben der Tasche lag sein Hut, ein hellgrauer Filzhut – sie kauften ihn auf der Schildergasse, und Franz hatte mindestens zwanzig Hüte aufgesetzt, ehe er sich für diesen weichen Filz entschloß. »Du hast einen sicheren Geschmack, Greta«, hatte er dann draußen auf der Schildergasse gesagt. »Ich wüßte jetzt vor lauter Reisefieber wirklich nicht, was ich kaufen sollte. Wie gut, daß du bei mir bist.« Und jetzt lagen die Tasche und der Hut achtlos weggeworfen auf dem roten Ledersitz eines weißen Wagens, den eine erschreckend schöne Frau fuhr, die mit Franz untergefaßt in der Oper verschwunden war.
Das kurze, herzlose Schreiben, das sie gestern bekommen hatte, gewann nun einen anderen, viel schmerzlicheren und realeren Sinn. An alles hatte Greta Sanden gedacht – an die Angst, sich vielleicht bei der Premiere zu blamieren, an ein fehlendes Zimmer für sie, an eine Unpäßlichkeit, eine Verschiebung der Vorstellung, eine Umbesetzung der Rolle mit einem anderen Sänger, nur daran hatte sie nicht gedacht, daß eine andere, schönere Frau als sie Franz Krone von ihr wegriß und ihre Nähe sie, das kleine Mädchen hinter der Theke eines Textilladens, vergessen ließ.
Der Portier des Bühneneinganges kam aus der Tür heraus. Er musterte das Mädchen und trat näher.
»Wos machen S' an dem Woagen?« fragte er. Und als er sah, wie das Mädchen erschrocken herumfuhr, meinte er begütigend: »Dös is an Kreuzer, wos? G'hört der Sandra Belora …«
»Ich weiß … Entschuldigen Sie.« Greta Sanden eilte davon und rannte durch Nebenstraßen und enge Altstadtgassen, und sie schämte sich, daß ihr die Tränen aus den Augen rannen und sie schluchzend und kopflos in der brausenden, unbekannten Stadt umherlief.
Vor dem Eingang der Frauenkirche blieb sie stehen. Die Zwiebeltürme schienen in dem blauen, sommerlichen Himmel zu schwanken. Sie wischte die Tränen mit den Handrücken aus den Augen und trat in das halbdunkle, weite Kirchenschiff. An der hintersten Säule blieb sie stehen und schaute zu dem Altar hinüber. »Was soll ich tun?« dachte sie. »Mein Gott – mit solch einer nichtigen, banalen, dummen Sache komme ich nun zu dir, mit einem solch kleinen Schmerz menschlicher Irrung. Aber es tut so weh in der Brust, und das Herz ist so schwer, so voller Kummer und Ratlosigkeit. Hilf mir, mein Gott.«
Und sie lehnte den Kopf an den kalten Stein der Säule und weinte wieder; aber es war keine Scham mehr in ihr, sondern nur die Befreiung, weinen zu können wie an der Brust eines gütigen Vaters.
Um halb acht Uhr abends begann die Premiere der Oper ›Tosca‹ von Puccini.
Der große Zuschauerraum des Opernhauses füllte sich langsam. Man sah große Garderoben und Frack oder Smoking, wertvolle Geschmeide blitzten im Schein der Kronleuchter auf, Pelze glitten von schönen Schultern. Auf den Rängen und in den Logen begann die Begrüßungscour der Münchener Prominenz. Dr. Fischer schüttelte die Hände einiger Minister und begrüßte Damen der Gesellschaft, umgaukelt von Parfüm, Puderduft und rauschenden Roben. Im Orchesterraum fuhr sich Professor Bucher mit dem Zeigefinger zwischen Hals und Frackkragen hin und her. Der Kragen war zu eng, seine Frau hatte den falschen herausgelegt, der eigentlich schon längst weggeworfen werden sollte. Er hatte es beim zubinden nicht gleich bemerkt; jetzt war es zu spät. Aber in der Pause würde er einen anderen umlegen, er hatte schon mit zu Hause telefoniert und am Apparat getobt, daß sein jüngster Sohn mit dem Motorroller kommen solle, damit er sich in der Pause einen neuen Kragen umbinden könne.
Regisseur Vandenbelt rannte hinter dem Vorhang auf der Bühne hin und her und besprach mit dem Chefbeleuchter noch einmal das letzte Bild. Der aufdämmernde Morgen in dieser Szene machte immer ein wenig Schwierigkeiten. Auf jeden Fall mußte die Morgendämmerung beim Beginn der großen Arie ›Und es blitzten die Sterne‹ so intensiv sein, daß man
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