Ein mörderischer Schatten (German Edition)
weggehen sehen. Langsam wandte sie sich vom Fenster ab und schlurfte zur Terrassentür. Die große Terrassentür bot einen guten Blick in den Garten und auf die Stelle, wo vorhin noch der Mann gestanden hatte. Toni schauderte. Sie war hier ganz allein mit den Kindern. Wenn der Mann hier eindringen wollte, würde das keiner bemerken. Wenn sie schrie, würde niemand ihre Hilferufe hören. Toni schauderte, trat von der Türe weg, ließ sich an der Wand zu Boden gleiten und kauerte sich verzweifelt zusammen. Sie war nicht verrückt und sie bildete sich auch nichts ein! Warum glaubte ihr niemand? Sogar ihre Eltern hielten sie für überspannt. Wenn sie ihnen morgen von heute Nacht erzählen würde, würden sie sich ansehen, besorgt die Stirn runzeln und ihr Mitgefühl ausdrücken, weil sie der Verlust ihrer besten Freundin so mitgenommen und nun entgültig aus der Bahn geworfen hatte. Toni umklammerte ihre Knie und ließ mutlos den Kopf sinken. Wer konnte der Mann nur sein? Und warum sie? Sie war weder sonderlich attraktiv, noch war sie jemand, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Nun, wenigstens nicht im positiven Sinne.
Toni hob den Kopf und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Im Geiste ging sie sämtliche Männer durch, mit denen sie in den letzten Monaten zu tun gehabt hatte. Ihre Kenntnisse über Stalker hatte sie aus dem Fernsehen. Diese Quelle hielt sie nicht für sonderlich realistisch, allerdings erschien es ihr logisch, das oft verschmähte Liebhaber die Täter waren. Nun, Toni hatte in ihrem Leben genau einen Liebhaber gehabt, das war ihr Exmann, und der weinte ihr keine Träne nach. Aber was, wenn er sauer war, weil sie ihren Anwalt wieder wegen der Unterhaltszahlungen auf ihn gehetzt hatte? Sie war im April mal wieder zum Anwalt gegangen und Jens hatte sich bisher geweigert, seine Verdienste offenzulegen. Toni knabberte nachdenklich an ihrem Daumennagel. Er könnte versuchen, sie verrückt zu machen. Oder als verrückt darzustellen. So würde keiner ihr glauben, würde sie seine Schwarzarbeit und den Sozialbetrug melden. Aber nein, Jens war ein Drecksack, aber kein Mörder. Er wäre nicht so weit gegangen, Sabine etwas anzutun.
Dann wäre da Ralf. Den hatte sie schon ausgeschlossen. Warum sollte er sie heimlich beobachten. Er sah sie jeden Tag auf der Arbeit. Na gut, das war etwas anderes und im Moment war die Stimmung auf der Arbeit etwas merkwürdig. Nach ihrer Verabredung, Schützenfest und Sabines Tod vermieden sie es im Moment, Privates anzuspechen. Aber auch Ralf würde niemanden umbringen.
Aber Sabines Tod ergab sowieso keinen Sinn. Wie der Polizist schon richtig gesagt hatte: Warum sollte jemand, der sie verfolgte, ihre Freundin ermorden?
Toni zermarterte sich das Hirn, wer sonst in Frage käme. Ihr Nachbar? Der war hier Anfang Mai hergezogen und sie war mit ihm aneinandergeraten. Kurz darauf hatte es mit den Pralinen angefangen. „Nee“, murmelte Toni. Sie sah ihn vor sich, mit seinen durchlöcherten Ohren und den Tätowierungen bis zu den Fingern. Er war wohl kaum der Typ, der Pralinen schenkte und Rosen verteilte. Er sah eher so aus, als würde er der Frau, die ihn verärgert hatte, eine runterhauen. Toni schnaufte frustriert. Dann fiel ihr noch jemand ein. Jochen. Toni verzog das Gesicht. Doch dann zwang sie sich, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Waren nicht meistens die freundlichen, harmlos aussehenden, keinen Verdacht erregenden Männer die Psychopathen? Selbst im Fernsehen hörte man oft in Interviews davon. Die Nachbarn sagten dann später immer: „Er war ein unauffälliger, freundlicher ruhiger Nachbar. Wir mochten ihn alle gern.“ Toni begann sich für den Gedanken zu erwärmen. Doch dann fiel ihr etwas ein. Jochen war alleinerziehend. Ihr Stalker war ihr bisher entweder früh am Morgen oder abends spät aufgefallen. Auch Pralinen und Rosen fielen in diese Zeit. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann seine Tochter allein ließ, so wie er sich sonst wie der Vater des Jahres aufführte. Und wenn der Jogger ihr aufgefallen war, war es immer kurz nach sechs gewesen. Bei dem Vorfall mit der Ziege am Wochenende wäre es dann sogar weit nach sieben gewesen, ehe er zu Hause gewesen wäre, wenn er die Ziege noch beseitigt hätte. Da hätte seine Tochter schon längst wach sein können. Nein, Jochen schied auch aus.
Toni atmete erschöpft aus. Langsam wurde ihr erst das ganze Ausmaß dessen bewusst, wie sehr der Fremde in ihre Privatsphäre eingedrungen war. Der Jogger
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