Ein mörderischer Sommer
der mehrere Renovierungen überstanden hatte, ohne sich stark zu verändern. Obwohl die Innenwände erst vor kurzem einen neuen Anstrich erhalten hatten – in einem Farbton, der gerade ›in‹ war: Pfirsich –, wirkten die Gänge immer noch genauso traurig und verlassen wie die Insassen des Heims, die dort auf und ab gingen. Straße der Todeszellen, blumengeschmückt, dachte Joanne, während sie sich dem Zimmer ihres Großvaters am Ende des Gangs näherte.
Ein Jahr nach dem Tod seiner Frau hatte der massige Mann zu schrumpfen begonnen. Er verlor immer mehr Gewicht, er ließ die Schultern hängen, sein langer Hals verschrumpelte. In letzter Zeit erinnerte er Joanne weniger an einen Mann als an eine uralte Schildkröte.
Bald nachdem er freiwillig ins Baycrest-Pflegeheim gezogen war, hatte er angefangen, einen Kokon um sich zu spinnen, und etwa zu der Zeit, als in der linken Brust von Joannes Mutter ein Knoten entdeckt worden war, hatte er sich für immer in diesen Kokon eingehüllt. Er hatte nie gefragt, warum seine Tochter ihn immer seltener besuchen kam, und als sie vor drei Jahren gestorben war – drei Jahre ist das schon her? wunderte sich Joanne, als sie die Tür zum Zimmer ihres Großvaters öffnete –, hatten Joanne und ihr Bruder beschlossen, ihm nichts davon zu erzählen. Seitdem besuchte sie den alten Mann jede Woche; weniger aus einem Pflichtgefühl heraus als deshalb, weil er für sie die einzige greifbare Verbindung zur Vergangenheit darstellte.
Dieser Mann war an regnerischen Nachmittagen mit ihr im Cottage gesessen und hatte ihr Gin Rommé beigebracht, hatte perfekte Fünf-Minuten-Eier für sie gekocht und mit kleinen, selbstgehäkelten Hauben bedeckt, damit sie warm blieben. Dann hatte er zugesehen, wie sie die Eier aß, und ihr erzählt, was er die Woche über in der Stadt erlebt hatte – nie herablassend oder gönnerhaft, immer übermütig und strotzend vor Lebenslust.
»Linda?« fragte ihr Großvater, als Joanne ans Bett trat und seine Hand nahm. Seine Stimme klang wie eine Parodie dessen, was sie einst gewesen war.
»Ja, Pa«, antwortete sie und imitierte dabei unbewußt die Stimme ihrer Mutter. Sie nahm sich einen Stuhl. Wann hat er mich zum letztenmal bei meinem richtigen Namen genannt? überlegte sie. Ich heiße Joanne, wollte sie ihm sagen, aber er schnarchte schon, und Joanne saß da und hielt seine linke Hand durch die Gitterstäbe an der Seite des Betts hindurch.
»Erstaunlich, wie schnell die einschlafen können«, hörte sie jemanden sagen. Joanne sah hinüber zu dem anderen Bett, in dem der alte Sam Hensley friedlich dösend lag. »Noch vor einer Minute«, fuhr die Frau fort, die am Fußende dieses Betts stand, »war er ein tobender Irrer. Sie hätten ihn sehen sollen! Er hat einen Nachttopf nach der Schwester geworfen! Das hier ist nun schon das dritte Heim, in das ich ihn stecken mußte. Die anderen wollten ihn nicht behalten. Ich gehe jetzt eine rauchen.« Sie drehte sich um, und erst jetzt sah Joanne, daß auch der Sohn dieser Frau im Zimmer war. Er saß auf einem der Holzstühle; sein Kopf lag auf der rechten Schulter, seine Augen waren geschlossen.
Die Frau verließ das Zimmer. Joanne versuchte, dieser Kombination von zerstörtem Gesicht und herausfordernd massigem Körper einen Namen zuzuordnen. Sie hatte Mutter und Sohn vor ungefähr einem Monat kennengelernt, als der Vater der Frau hierher verlegt worden war. Marg irgendwas. Joanne fühlte, wie sich die Hand ihres Großvaters in der ihren bewegte. Crosby. Marg Crosby und ihr Sohn Alan, etwa achtzehn Jahre alt.
»Linda«, murmelte ihr Großvater.
»Ja, Pa«, antwortete Joanne fast mechanisch. »Ich bin hier.« Er schlief wieder ein. Wo bist du? fragte Joanne ihn schweigend. Wohin gehst du? Langsam fuhr ihr Blick über sein blasses, dünnes Gesicht mit den Wangen, die jetzt nur noch halb so groß waren wie früher und bedeckt mit Stoppeln, die der Pfleger bei der täglichen schlechten Morgenrasur übersehen hatte. Sein einstmals breiter Mund war jetzt eingesunken, und die hohe Stirn wurde von einer abgewetzten Sherlock-Holmes-Mütze verdeckt, die ihm irgend jemand auf den Kopf gesetzt hatte; sie war Joannes Geschenk zu seinem fünfundachtzigsten Geburtstag gewesen, vor zehn Jahren. Innerhalb dieses Jahrzehnts war ihre Großmutter gestorben und ihr Großvater zunehmend verfallen; ihre Mutter war vom Krebs zerfressen worden, und nur neun Tage nach ihrem Begräbnis hatte ihr Vater einen tödlichen Herzanfall
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