Ein mörderischer Sommer
Er würde sauer sein. Na und, dann ist er eben sauer! dachte sie und nahm den Hörer ans Ohr. Sie selbst war auch ziemlich sauer.
»Mrs. Hunter«, neckte sie die Stimme ölig, »Sie waren ja ein ganz böses Mädchen, nicht wahr, Mrs. Hunter? Mit dem Mann ihrer besten Freundin rummachen.« Die Worte versetzten Joanne in eine sofortige Lähmung, so unerwartet war die krächzende Stimme gekommen. Er wußte, wo sie gewesen war! Er beobachtete sie! »Sie müssen bestraft werden, Mrs. Hunter«, fuhr die Stimme frohlockend fort. »Ich werde Sie bestrafen müssen.« Es folgte eine lange, frösteln machende Pause.
»O Gott«, stöhnte Joanne.
»Beginnen werde ich damit, daß ich Ihren Slip herunterziehe und Sie verhaue …«
»Fahren Sie zur Hölle!« kreischte Joanne und ließ den Hörer so hart auf die Gabel krachen, daß er wie eine Schlange wieder zu ihr hochsprang. Sie mußte ihn ein zweites Mal draufwerfen.
»Mom?« fragte eine ängstliche Stimme. Joanne drehte sich ruckartig um und sah ihre jüngere Tochter in der Tür stehen. Lulu starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Was ist denn los? Was machst du denn da?«
»Ich habe einen obszönen Anruf bekommen«, antwortete Joanne hastig. Ihre Stimme klang heiser, ihr Atem ging schnell. »Hast du nicht das Telefon klingeln hören?« fragte sie. Auf Lulus Gesicht erschien ein Ausdruck des Erstaunens.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nur dein Schreien gehört.«
Eine Minute lang blieb Joanne auf dem Boden sitzen und verdaute diesen Satz. Dann stemmte sie sich hoch.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht aufwecken.« Joanne begleitete ihre schlaftrunkene, verwunderte Tochter in ihr Zimmer zurück. »Geh wieder schlafen, meine Süße. Es tut mir leid, daß ich dich aufgeweckt habe.«
»Ist Robin schon heimgekommen?«
»Nein, noch nicht.«
»Zuerst habe ich gedacht, du schreist sie an«, erklärte Lulu, die, sobald ihr Kopf auf das Kissen gesunken war, ihre Augen geschlossen hatte. »Es ist so komisch, wenn man dich schreien hört«, flüsterte sie.
Joanne ging in ihr Schlafzimmer zurück, warf sich einen Bademantel über das T-Shirt und stieg langsam und schwerfällig die Treppe hinab, um unten auf die Rückkehr ihrer älteren Tochter zu warten.
»Sag ihm, er soll reinkommen«, bat Joanne mit ruhiger Stimme, als Robin gerade die Haustür schließen wollte.
»Du kommst wohl besser mit rein«, hörte sie Robin dem jungen Mann hinter ihr zuflüstern.
Scott Peterson schlurfte ins Haus und lächelte Joanne unschuldig zu.
»Schließen Sie die Tür«, sagte Joanne zu ihm. Sie hörte Robin tief Luft holen. »Vielleicht gehen wir besser ins Wohnzimmer«, schlug sie vor, und widerwillig folgte ihr das schweigende Paar dorthin. Joanne knipste das Licht an. »Ihr könnt euch hinsetzen, wenn ihr wollt«, sagte sie mit einer entsprechenden Handbewegung, aber keiner der beiden rührte sich von der Stelle. »Ich glaube, ihr beide wißt, um was es hier geht.«
»Ach, die kleine Petze«, höhnte Robin sofort, gerade laut genug, daß man es klar verstehen konnte.
»Fang ja nicht an, Lulu die Schuld zu geben«, warnte Joanne.
»Es war doch gar nichts …«, protestierte Robin.
»Und sag mir nicht, es war doch gar nichts!« erwiderte ihre Mutter mit lauter werdender Stimme. Was sollte sie als nächstes sagen? Sie räusperte sich. Warum war Paul nicht hier, um ihr zu helfen? »Ich will nicht mit dir diskutieren«, sagte sie, wieder ruhig. »Von meiner Seite aus gibt es hier nichts zu diskutieren, ich glaube, ich habe ein ziemlich klares Bild davon, was vorgefallen ist. Du kannst mir widersprechen, wenn irgend etwas an dem, was ich sage, im wesentlichen falsch ist.« Das klang fair, fand sie und blickte von ihrer Tochter zu Scott Peterson, dessen Augen Löcher in sie zu bohren schienen. Jetzt war sie nicht unsichtbar, dachte sie, und wünschte fast, sie wäre es. »Lulu hat erzählt, daß ihr heute am frühen Abend in deinem Zimmer wart und einen … Joint geraucht habt und daß ihr ihr angeboten habt, mitzurauchen.« Sie gratulierte sich selbst: gut gemacht. Paul würde stolz darauf sein, wie sie die Situation meisterte. Sie sah ihn, wie er ihr in unsichtbarer Zustimmung von seinem Platz am anderen Ende des Zimmers aus zunickte.
»Sie hatte nichts in meinem Zimmer verloren!« widersprach Robin lautstark.
»Wie bitte?« rief Joanne, einen Augenblick lang erstaunt über den Klang ihrer eigenen Stimme. »Wie bitte?« wiederholte sie, wie um zu bekräftigen, daß es
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