Ein Moment fürs Leben. Roman
gestorben sind, leben wir noch heute fröhlich in Blutschande?«, witzelte ich.
Er runzelte die Stirn, lehnte sich an den Türrahmen und starrte mich an.
»Was ist?«
»Nichts.«
»Was ist denn los, Riley? Du stehst doch nicht nur deshalb hier, weil du mir meine Schuhe bringen willst.«
»Nein, es ist nichts«, wiederholte er. »Nur …« Er sah aus, als habe er etwas Ernstes auf dem Herzen. »Es ist nur, dass ich diesen Typen kennengelernt habe, der vor ein paar Jahren mit dir bei
Quinn & Downing
gearbeitet hat, und der hat mir ein paar Sachen erzählt …« Er musterte mich durchdringend, und ich versuchte, nicht so ängstlich auszusehen, wie ich mich fühlte, sondern verwirrt. Prompt änderte er den Kurs. »Wahrscheinlich irrt er sich ja sowieso«, meinte er und räusperte sich.
»Wie hieß denn der Typ?«, fragte ich kühl.
»Gavin Lisadel.« Wieder das Gemustere.
Ich verdrehte die Augen. »Oje. Der Melodramatiker schlechthin, wenn ich mich recht erinnere.« In Wahrheit war mein Ex-Kollege ein absolut anständiger Kerl. »Ich hab schon gehört, dass er alle möglichen sonderbaren Geschichten über mich in Umlauf bringt. Aber keine Sorge, was immer es ist – es ist gelogen. Angeblich hat Gavin seine Frau jahrelang mit einem Mann betrogen, also …«, fuhr ich fort, obwohl er, soweit ich wusste, glücklich verheiratet war. In weniger als einer Minute hatte ich den bislang makellosen Ruf dieses Mannes ruiniert. Aber es war mir vollkommen egal. Schließlich hatte er meinen doch auch zerstört – nicht dass der jemals makellos gewesen wäre. Und er hatte vermutlich auch nicht gelogen. Schon fühlte ich mich schlecht und setzte hinzu: »Aber er war immer total beliebt und echt gut in seinem Job.«
Riley nickte, nicht wirklich überzeugt, aber er wechselte erneut das Thema. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du gesagt hast, Vater wäre nicht der Typ, der gestillt worden ist.« Er fing an zu lachen, warf den Kopf in den Nacken und lachte immer lauter.
Schließlich stimmte ich ein. »Stimmt doch, oder nicht? Mit so was hätte sich Schrumpeltitte doch niemals abgegeben.«
Er schüttelte den Kopf, als wäre ihm schon allein der Gedanke unangenehm.
In diesem Moment öffnete sich die Tür gegenüber, und ein freundliches Gesicht kam zum Vorschein. »Hi, Lucy, entschuldigen Sie bitte, aber würde es Ihnen was ausmachen, ein bisschen leiser zu sein? Ich hab gerade … oh, hallo«, unterbrach sie sich, als sie Riley bemerkte.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Riley sofort. »Ich wollte sowieso gerade gehen.«
»Nein, das war unhöflich von mir. Ich hab nur grade …« Sie deutete mit dem Daumen hinter sich in die Wohnung, sagte aber nichts. »Sie sehen sich so ähnlich – sind Sie Lucys Bruder?«, fragte sie und musterte uns aufmerksam.
»Ja. Ich bin Riley«, sagte er, und die beiden schüttelten sich die Hand, was mir unangenehm war, weil ich mir nicht mal den Namen meiner Nachbarin merken konnte. Ich hatte ihren Namen sofort wieder vergessen, nachdem sie ihn mir gesagt hatte. Die Zeit verging, und irgendwann wäre es mir unhöflich vorgekommen nachzufragen, also sprach ich sie einfach nicht an, sondern grüßte sie nur mit Hey und Hi und Hallo. Irgendwie hatte ich den Verdacht, dass sie Ruth hieß, aber es fehlte mir der Mut, es einfach auszuprobieren.
»Ich bin Claire«, sagte sie jetzt.
Auch gut.
»Hi, Claire.«
Riley sah sie mit seinem besten »Ich bin echt nett und süß, aber auch stark und männlich, vertrau mir«-Flirtblick an, was mich total nervte, aber Claire war ja nicht völlig irre, wickelte sich aus seinem Netz an Verheißungen und verabschiedete sich schnell.
»Dein Charme scheint nicht mehr so zu funktionieren, Riley.«
Er schaute zu mir, jetzt wieder ernst.
»Mach dir nichts draus, das passiert uns allen.«
»Das ist es nicht.«
»Was denn dann, Riley?«
»Nichts«, sagte er, ließ den Gedanken in der Luft hängen und machte sich auf den Weg zum Aufzug.
»Danke für die Schuhe«, sagte ich etwas sanfter.
Er drehte sich nicht um, hob nur grüßend den Arm und verschwand in der Kabine.
Kurz bevor ich meine Tür schloss, hörte ich, wie meine Nachbarin – deren Namen ich schon wieder vergessen hatte – die Tür öffnete und rief: »Wenn Sie je Lust haben, mal auf einen Kaffee vorbeizukommen, würde ich mich freuen. Ich bin immer zu Hause.«
»Oh, okay.« Die Situation war mir wirklich unangenehm. Mal abgesehen von dem Geplauder neulich im Aufzug war das die
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