Ein Moment fürs Leben. Roman
Gesicht. »Es ist doch so: Wenn du stürzt und dir ein Bein brichst, dann hast du Schmerzen und gehst zum Arzt. Der macht ein Röntgenbild, und wenn du das ans Licht hältst, kann jeder den gebrochenen Knochen erkennen. Richtig?«
Ich nickte.
»Oder du hast einen kaputten Zahn, und der tut weh, also gehst du zum Zahnarzt, der steckt dir eine Kamera in den Mund, diagnostiziert das Problem und verordnet dir eine Wurzelbehandlung oder so. Richtig?«
Wieder nickte ich.
»Solche Dinge werden in unserer modernen Gesellschaft ohne weiteres akzeptiert. Du bist krank, du gehst zum Arzt, du kriegst Antibiotika. Du bist deprimiert, du redest mit einem Therapeuten, der verschreibt dir vielleicht Antidepressiva. Du kriegst graue Haare, gehst zum Friseur und lässt sie färben. Aber mit deinem Leben triffst du ein paar falsche Entscheidungen, hast vielleicht ein bisschen Pech, was auch immer, aber du musst trotzdem weitermachen, stimmt’s? Niemand kann die Unterseite dessen sehen, was du bist, und wenn man in unserer modernen Welt etwas nicht sehen kann – wenn man weder mit einem Röntgenapparat noch mit einer Kamera ein Bild davon machen kann –, dann existiert es einfach nicht. Aber ich
bin
da. Ich bin der andere Teil von dir. Das Röntgenbild deines Lebens. Ich bin das Bild im Spiegel, ich zeige dir, wenn dir etwas wehtut, wenn du unglücklich bist. Das alles spiegelt sich in mir. War das verständlich?«
Das erklärte jedenfalls den Mundgeruch, die feuchten Hände und den schlechten Haarschnitt. Ich ließ es mir durch den Kopf gehen. »Ja, aber das ist doch ziemlich unfair dir gegenüber.«
»Aber genau das ist meine Aufgabe. Es liegt an mir selbst, dafür zu sorgen, dass ich glücklich werde. Du siehst also, dass es hier genauso um mich geht wie um dich. Je mehr du dein Leben lebst, umso glücklicher bin ich, je zufriedener du bist, desto gesünder bin ich.«
»Also hängt deine Zufriedenheit von mir ab.«
»Ich betrachte uns lieber als ein Team. Du bist die Lois Lane für meinen Superman. Der Pinky für meinen Brain.«
»Das Röntgenbild für mein gebrochenes Bein«, fügte ich hinzu, wir lächelten, und ich hatte das Gefühl, dass wir Frieden geschlossen hatten.
»Hast du deiner Familie erzählt, was passiert ist? Ich wette, die haben sich Sorgen gemacht.«
»Du weißt doch genau, was ich denen erzählt habe.«
»Ich glaube, es ist besser, wenn wir beide unsere Gespräche so behandeln, als wüsste ich gar nichts.«
»Keine Sorge, das mache ich. Gestern hab ich mich mit meiner Mum und mit Riley getroffen. In Rileys Apartment. Wir haben was vom Pakistaner gegessen, und Mum hat es sich nicht nehmen lassen, mir eine heiße Schokolade zu machen, wie früher, wenn ich hingefallen bin und mir weh getan habe«, berichtete ich lachend.
»Klingt nett.«
»War es auch.«
»Hast du mit ihnen auch über gestern gesprochen?«
»Ich hab ihnen gesagt, dass ich in einem anderen Büro war. Dass ich irgendwas erledigen musste und die ganze Aufregung nicht mitgekriegt habe.«
»Warum hast du das gesagt?«
»Ich weiß auch nicht. Damit sie sich meinetwegen keine Sorgen machen.«
»Was bist du doch rücksichtsvoll«, meinte er sarkastisch. »Du hast es nicht gesagt, um sie zu schützen, sondern, um
dich
zu schützen. Damit du nicht darüber reden musst, damit du nicht zugeben musst, dass du etwas
fühlst
. Dieses komische Wort, das du gar nicht leiden kannst.«
»Keine Ahnung. Vielleicht. Was du sagst, klingt alles sehr kompliziert, und so denke ich nicht.«
»Möchtest du meine Theorie hören?«
»Schieß los«, sagte ich und stützte mein Kinn in die Hand.
»Vor ein paar Jahren, als Blake …«, er zögerte, »… als Blake von dir verlassen wurde …«
Ich grinste.
»… da hast du angefangen, andere Leute anzulügen, und weil du sie angelogen hast, war es auch leichter, dich selbst anzulügen.«
»Das ist eine interessante Theorie, aber ich habe keine Ahnung, ob sie stimmt.«
»Tja, das werden wir überprüfen. Bald musst du mit dem Lügen aufhören – was übrigens schwerer sein wird, als du denkst –, und dann wirst du Stück für Stück die Wahrheit über dich erfahren, was auch schwerer sein wird, als du denkst.«
Ich rieb mir die schmerzenden Schläfen und wünschte mir, ich wäre nicht in diesen Schlamassel geraten. »Und wie soll das gehen?«
»Indem du Zeit mit mir verbringst.«
»Klar. Einmal die Woche?«
»Nein, ich meine, ich gehe mit dir zur Arbeit, ich treffe zusammen mit dir deine
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