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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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›Astrolabium‹, eine Art Apparat oder Besteck zur Sterndeuterei; manche Gäste, besonders solche, die auf ihren Verkehr in diesem Hause was hielten, erzählten anderswo kurzerhand, es sei das Astrolabium Senis, mit dem dieser einst dem Wallenstein horoskopiert habe: »ein alter von Spressescher Familienbesitz.«
    Es war hier kühl, das war das erste, was Conrad empfand; die Tür in den Garten stand offen, und die Sonne wich bereits. Frau von Spresse reichte die Hand zum Kusse, während das Mädchen den Tee eingoß. Die Tante war wirklich mager; jetzt, von der gedämpften Lampe halb seitlich beleuchtet, sah sie fast flach und zweidimensional aus wie ein Bleisoldat. Castiletz empfand plötzlich seine eigene Anwesenheit hier als grotesk. Keine »Romantik« regte sich, trotz der immerhin außergewöhnlichen Umgebung.
    »Nun, wie geht es bei dir daheim?« sagte sie, als Gegenfrage nach Conrads artiger Erkundigung über ihr Befinden.
    Er dankte und sagte »gut«. Wie man im Einschlafen dann und wann einmal einen kleinen Ruck spürt, als fiele man ein Stück hinunter – wobei die Glieder wirklich zucken – so fiel Conrad zu seinem Erstaunen hier plötzlich in einen völlig leeren Raum der Erinnerung, und wenig fehlte, daß er eine unwillkürliche Bewegung vollführt hätte. Er war doch als Junge in diesem Hause gewesen, wenn auch sicherlich höchst selten in der Bibliothek. Aber im Garten, in der Vorhalle . . . nichts war da, was noch von einer ersten und älteren Schicht des Sehens und Erlebens dieser Umgebungen hier sich gegen die jetzigen Eindrücke als andersartig abgesetzt hätte; in diesem Augenblicke zumindest nichts. Immerhin war er doch damals schon (»ich habe doch schon Kragen und Krawatten getragen«, dachte er) einigermaßen erwachsen gewesen . . .
    Sie verwischte sein Staunen durch eine Frage:
    »Deine Frau soll sich, wie ich neulich hörte, sehr auf das Sportliche verlegt haben?«
    Castiletz fühlte jetzt deutlich, daß es zum Beispiel ein Ding der Unmöglichkeit wäre, seiner Tante Erika mitzuteilen, was eben in ihm vorgegangen: warum war das unmöglich? Sie hätte kein Wort davon verstanden. Und woran lag das, wo sie doch den ganzen Tag Bücher las und obendrein noch malte? Ihm war kalt hier herinnen, in dieser Bibliothek, mit dem streng blickenden kleinen Zinnsoldaten. Wäre Castiletz weniger »textilisch« gewesen (das Wort stammt natürlich von Hohenlocher, ohne den, hier sei es einmal gesagt, diese Geschichte überhaupt nie geschrieben worden wäre!) – wäre er also weniger »textilisch« gewesen, dann hätte er den Urgrund des Unbehagens, welches ihm Frau von Spresse verursachte, anzugeben vermocht: weil dieser nämlich jede Fähigkeit zu anschaulichem Denken restlos abging, wie einer Pflanze, die in der Presse gelegen ist, der Saft. Daher nur war es ihr möglich, sich eilfertig tagaus, tagein mit den schönen Künsten und den Wissenschaften zu beschäftigen, ohne jemals von solchem Tun beschwert zu werden (sie hatte übrigens auch ein Buch geschrieben, es hieß: ›Schöne Leserin‹, mit dem Untertitel ›Werke der Weltliteratur, gespiegelt in Frauenseelen‹). Freilich, wie sollte etwas sie beschweren, dessen wirkliches Maß ihr völlig unbekannt war und immer bleiben mußte! Jedoch unser Castiletz fand hier nicht einmal den einfachen Ausdruck »Phantasielosigkeit«.
    »Ja«, antwortete er auf die Frage seiner Tante, »ich glaube, es tut ihr sehr gut. Hoffentlich überanstrengt sie sich nicht.«
    »Auch Frauen beginnen heute damit, nicht nur Mädchen«, sagte Tante Erika. »Marianne hat bisher, glaube ich, nicht einmal Tennis gespielt?«
    »Nein, soviel ich weiß, nicht«, antwortete Conrad.
    »Nun, da wird sie ja an dir jetzt einen vortrefflichen Lehrmeister und Partner finden.«
    Castiletz begann einer Art Lähmung zu unterliegen. Daß er, auf dem Wege hierher, der Straßenbahn entsteigend und dann gegen die Sonne langsam die berganführende Straße heraufgehend, geradezu angeregt gewesen war und sogar im Sinne gehabt hatte, sich bei seiner Tante gewisse Auskünfte zu holen – das alles wurde gänzlich unanschaulich und er vergaß es über dem einen Wunsche: bald mit Anstand von hier fortzukommen. Endlich erschien nun das Mädchen wieder, schloß die breite Glastür ins Freie und schaltete einen in der Nähe befindlichen Heizkörper ein. Conrad ließ sich Tee nachgießen, der übrigens nicht mehr heiß war.
    »Ich werde kaum zum Tennisspielen kommen, heuer«, sagte er; und weil er fühlte,

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