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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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gewissermaßen unlauter erschienen. Nun gut, aber beim Lernen als Sperrenschaffner hatte man vor niemand was voraus gehabt, das Begriffsvermögen anderer war zum Teil sogar viel geschwinder gewesen als das eigene: ditto beim Dienst auf dem Bahnsteig. Schließlich hatte man wieder eine Prüfung gemacht – die dritte, denn da gab’s vorher noch eine »Fahrkartenprüfung«, wenn an der Sperre ausgelernt worden war – und nun wurde man als Zugbegleiter ausgebildet; und so begann weiterhin das Leben auf Brücken und in Tunnels, Jahr und Tag, durch den Keller und an den Dächern entlang. (Vorher natürlich Prüfung! Merkwürdig, man kam eigentlich aus den Prüfungen nie heraus, aber hier wurden sie wenigstens wirklich abgelegt.) Hatte, streng genommen, ein Unglücksfall, den man da irgendwo verkapselt – nicht immer gut verkapselt! – mit sich herumtrug, den entscheidenden Anstoß zum Hinüberwechseln in das andere Geleise gegeben, so war’s nun ein Glücksfall, der auf diesem selben Geleise entscheidend vorwärts brachte: schon im Jahre 1923 war der Bedarf an Mannschaft für den Fahrdienst gestiegen, durch die Eröffnung der Linie von Nord nach Süd; und 1926 wurde ein Teil jener Strecke in Betrieb genommen, welche heute über Neukölln hinausführt. So war man denn eines Tages wieder draußen im Westen auf dem Probegeleis, das man schon von der Ausbildung zum Zugbegleiter her kannte – ebenso wie die Räume für die theoretische Ausbildung beim Stralauer Tor (Hörsäle, ja, ja!). Diese hundert Teufeleien, welche der Fahrmeister beim Unterricht trieb – dort schraubte er eine Sicherung ab, hier zog er die Notbremse, nun machte er da irgendwas mit der Handbremse, lauter mögliche Fehler und Fälle erzeugend, die rasch festgestellt und behoben werden mußten, rasch, rasch! – diese hundert Teufeleien wurden geradezu ein Sport, ja, da entdeckte man eine ganz neue Veranlagung in sich, eine technische Veranlagung, eine Vorliebe. Und die Signale! Die selbsttätigen sowie die halbselbsttätigen. Hier begann schon eine Art Genuß, der irgendwie und unterirdisch geradewegs mit der Knabenzeit zusammenhing.
    Sechs Wochen dauerte die Ausbildung zum Zugfahrer.
    Nun schwankte wieder das Leuchtbild der Stadt schräg in den Kurven, vom dunklen Führerstande aus gesehen (noch stand der Fahrmeister dabei), der gegitterte Rost endloser Straßenzüge, hinausleitend mit allmählich einsamer glitzernden Lichtern, die tausend kranken zwinkernden Erdensterne, trüb und scharf. Ein Tag wird kommen, wo man hier allein stehen wird, in dieser dunklen Schachtel, in diesem Kämmerchen, in diesem Ausblickskasten, den die Stromkraft jaulend vorantreibt. Dieser Tag ist nahe. An diesem Tage wird es einen vielleicht . . . ereilen, wird das Verkapselte da drinnen aufbrechen, wenn man mit diesen Händen, mit diesen (ärztlich geprüften) Augen ganz auf sich selbst angewiesen ist, wenn da sonst niemand steht, nur links, hinter der trennenden Wand mit dem kleinen Glasfenster, der Zugbegleiter draußen, im gleichen Raum wie die Fahrgäste.
    Nach einem halben Jahre wurde die Anspannung während der ersten vierzehn Tage des Alleinfahrens unbegreiflich, das heißt, es konnte davon fast nichts, fast gar nichts mehr erinnert werden: nur die Tatsache blieb bekannt, daß es eben so gewesen war. Und etwa als einzige lebende Erinnerung der Blick in die lautlose Spiritusflamme, über welcher man am Morgen vor der ersten Alleinfahrt den Kaffee gekocht hatte, bei noch völliger, dichter Dunkelheit, durch Augenblicke nur von dem einen Wunsche beseelt: es hinter sich zu haben. Aber dann, die Hand an der Bremse, den Zug in Bewegung: wie eine gute Mutter barg die geregelte Mechanik des Tuns den Menschen vor allen Mächten des Lebens, die da am Morgen, vor der stillen Spiritusflamme, noch lauernd in der eigenen dunklen, unbekannten Brust gesessen waren. Schon der nächste Bahnsteig flog fröhlich heran, die Wartenden wuchsen, kamen dem Zuge entgegen, die Lichter höhlten den Raum. Ja, man war hier am Platze. Und man wurde von nichts ereilt. Bald durchwärmte sich alles mit Gewohnheit.
    Darin lag dann, bei fortfallender Angespanntheit, deutlicher wieder, was eben jeder hat: eine Sorge, eine trübe Stelle, ein Druckpunkt, ein nicht erstatteter Dank .. . Nun hatte man diese Anstellung, nun sah man durch diese Fenster, nun fuhr man durch den Keller und über das Dach. Freilich pfiff man auf allerhand Oheime. Du Leben. Man sitzt dort oben, im Norden von Berlin, in der

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