Ein Mord den jeder begeht
acht. Ein dicker, dunkler Mann, der zufrieden aussieht, Aktentasche, Schnauze wie ein Schwein. Ein blonder, dünner, der immer etwas zurückgelehnt dasteht, Abstand nehmend in irgendeiner Weise, leicht beleidigt, es sieht aus, als wäre er schief in den Boden eingeschlagen. Den Zug erwartet er immer stehend, geht nie auf und ab, vielleicht wäre das gewissermaßen unter seiner Würde, unter der Würde seines Beleidigtseins. Tritt dann gleich auf den ersten Wagen zu. Also vermutlich Nichtraucher.
Der am Bahnsteig Diensttuende hebt den Befehlsstab. »Abfahren«, sagt der Zugbegleiter und pflegt dabei die Hand ein wenig an die Fensterscheibe zu legen; sodann steigt er in den anrollenden Zug und schließt die Schiebetür.
Graubraun liegt der Bahnkörper, die Gleise glänzen voraus auf, zwei Fahrschienen und die zum Stromabnehmen, welche um etwas weniger blank poliert ist. Der Zug schluckt laufende Schwellen unter sich weg, sonder Zahl. Vorne erscheint jetzt der schwarze Mund des Tunnels, fern noch, ein Mündchen, ein dunkles Loch, ein aufgerissenes schwarzes Viereck, eine schwarze Schachtel, in der die Gleise verschwinden (aber getrost, es geht schon weiter, und immer hindurch, wie’s eben zu gehen pflegt!). Jetzt stürzt sich der Zug dröhnend in den Schlauch, dessen Wand aus Rauch zu bestehen scheint. Aber es gibt hier keinen, das sieht nur so aus, die rasche Bewegung löst die nahe Wand auf in einen fließenden, nicht mehr festen Körper. Eine Wand gibt es im übrigen nur rechts, links trennen vom zweiten Geleise lediglich eiserne Tragsäulen.
Der nächste Bahnsteig öffnet sich als lange, von Lichtern bewohnte Höhle bereits in einem ganz anderen Stadtteil, den man untendurch, durch Abkürzung, in gänzlich unanschaulicher Weise, durch Kurzschluß sozusagen, erreicht hat. Die untergrunds durchbrausten Strecken fallen jedesmal im Finstern ins Nichts, als ein Nichts, das sie sind. Es riecht sauber darin. Nicht eigentlich kellrig. Auch nicht nach Rauch. Sondern wie in einer Schachtel.
Man hatte einst irgendwas studiert (Medizin war es gewesen, ein Geruch im Seziersaal unter anderem, das Heraustreten auf die Straße vor dem anatomischen Institut, die Frühjahrssonne . .. und wieder mal ein verbummelter Tag, ohne die Knochen der Schädelbasis genau gelernt zu haben). Indessen sah man jetzt bei ganz anderen Fenstern ins Leben hinein. Und das war besser so. Dieses verlassene Geleise, von welchem man hier herüber gekommen war, mit unglücklich-glücklicher Weiche, dieses frühere Geleise hatte eine immer mehr ansteigende Pein mit sich gebracht, ein zittriges Warten, ob der Oheim den Wechsel noch würde bestreiten bis zum Ende des Semesters . . . Dieser Oheim war abgestellt jetzt, erledigt, außerdem war er gestorben. Aber in der Frühjahrssonne vor dem Tor des Institutes – unter dessen Bogen einzelne noch in den weißen Seziermänteln standen – hier war, bei scherzhaften Reden, oft schon eine alles verdunkelnde, erdrückende Qual im Innern gewesen, die jede Tatkraft lähmte, die es noch unmöglicher machte, Versäumnisse einzuholen, als es ohnehin schon war, die es ausschloß, jetzt auf der Stelle nach Hause zu gehen (in diese Bude, wo sich viel zuviel Vorhänge, Plüsch, Möbel überhaupt befanden!), um dort die Dinge einmal der Reihe nach in Angriff zu nehmen. Die Bücher töteten. Aufgeschlagen entstieg ihnen sogleich der Todesschlaf. Auf den heutigen Tag kam es ja zweifelsohne nicht an, und deshalb ging man mit in die Kneipe. Überhaupt war das Ganze zu dumm, wozu denn so leben, mit diesem ewigen Onkel und seinen Schreckens – und Panikbriefen (die nur störten, schadeten – aber wer konnte das dem Manne wohl begreiflich machen?). Wozu denn so leben – man konnte wohl auch anders. Zwingend war das nun einmal gar nicht. Weil‘s zu dumm war. Weil’s immer mehr zu dumm wurde. Endlich wurde es ganz zu dumm. Es tat einem schon die Schädelbasis weh. Pfui Teufel!
Die Hand liegt an der Bremse. Man hat jetzt diese Anstellung. So geschwind ging das freilich nicht. Bei der Aufnahmeprüfung dort in der Köthenerstraße, im Direktionsgebäude der Untergrundbahn – ›Gesellschaft für elektrische Hoch – und Untergrundbahn‹ hieß es damals, 1921, genau – bei dieser Prüfung im Schreiben nach Diktat und in den vier Grundrechnungsarten, da hatte der Ex-Studio sich geschämt, weil das für ihn keine Prüfung gewesen war, während die anderen ganz ernstlich aufpassen mußten: seine Lage war ihm deshalb als
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