Ein Mord den jeder begeht
beiläufig:
»Ich weiß. Ich nahm ihn aus deinem Zimmer mit, Conrad wollte ihn gleich zurücktragen, jedoch brauchte ich den Jungen augenblicklich beim Abnehmen von Vorhängen und sagte ihm, er möge den Stift derweil einstecken. So kam er zu ihm.«
Lorenz Castiletz aber erwachte oder entschlief jetzt – wie man will! – zu seiner eigenen Erbärmlichkeit, die dick und kalt an ihm herabzurinnen begann, den linken Arm hinab, bis über die Hand, welche das kleine Endchen Bleifeder hielt. Diese Erbärmlichkeit aber war keine verzweifelte, oder sie war nur von einer ganz knochenlosen Verzweiflung begleitet, aus welcher selbst ein Gott keinen Funken Mut mehr zu schlagen vermocht hätte.
Er steckte das Bleistiftendchen in die Westentasche. Während Conrad mit halbtauben Ohren, in einer heißen und trockenen Abgeschlossenheit von sich selbst und der Welt, noch immer hinter der Mutter stand und sehr angelegentlich eine bestimmte Stelle jener Matte von braunem Rips betrachtete, welche von der Eingangstüre her zu der verglasten Tür des Empfangszimmers lief – während dieser langsam und gleichmäßig um sich selbst rotierenden Stille erfolgte bald das erste stöhnende Anzeichen der eigentlich schrecklichsten Geschehnisse dieses Abends, welche nun den Zusammenbruch eines eben noch total ebenholzschwarzen Vaters begleiteten. Und Conrad schlich in sein Zimmer, sein Rücken war schwer und krumm, man möchte beinahe sagen, todesgewiß, als würfe man ihm Felsblöcke nach: denn dort draußen lag Lorenz Castiletz auf dem Boden und küßte die Füße seiner Frau – Leontine war so tief erschrocken, daß sie völlig farblos wurde und trotz körperlicher Anwesenheit sozusagen fast gänzlich unter dem Horizonte verschwand. Lorenz küßte also die Füße seiner Frau und winselte. Das Mädchen hatte gottlob heute Ausgang. Denn in jener Tonart ging es den ganzen Abend weiter. Gegen zehn brachte die Mutter Kokosch einen Teller mit kaltem Fleisch und Salat und ein Glas Milch. Sie umarmte ihn. Ihr Blick war nun schon restlos nach allen Seiten zerflossen. Ihre dunkelblonden, sehr lockeren Haare schienen diesem Bestreben der Augen folgen zu wollen, sie standen aufgekraust um den Kopf, wie Windwolken am Himmel.
Erst zwei Tage später, des Nachts, da alles schlief, lösten sich bei Kokosch die Geschehnisse endlich auf. Er fuhr aus einem Traume und mit einem Ruck hoch in sitzende Stellung. Ein hohles Sausen stand in den Ohren, ein wahrer Abgrund von Geräusch, der alles und jedes verschlang. Noch kam es auf ihn zu, vorbei an dem kalten, kleinen einsamen Bahnhofe, hoch schwankend, mit dünner, sich windender Rauchfahne, glutäugig und finster: die Lokomotive. Der Vater, am Boden liegend, hatte die Weiche falsch gestellt, aber Conrad blieb gelähmt. Der Rauch war gräßlich, er wand sich wie ein dünner Strick und wie in Schmerzen. Die schwelenden Laternen spien unaufhörlich roten Saft, aus den Nasenlöchern, denn es waren ja die Gesichter der beiden Knaben vom Molchtümpel, die Ligharts blutig geschlagen hatte.
Kokosch saß im Bette, während die Überzeugungskraft des Traumes rasch nachließ, die Schale der Befangenheit sich weitete, endlich ganz in die Dunkelheit ringsum zerwich. Ein Scheinwerfer wanderte mit seinem Widerglanz über die Zimmerdecke. Kokosch lauschte. Jedoch von den Molchen, vom Kasten her, war diesmal keines jener winzigen, glucksenden Geräusche zu hören. Nun erwachte er ganz. Es gab ja keine Molche mehr. Kokosch wurde ruhig, kühl. Er sah durch das dunkle Fenster hinüber auf einzelne schwach schimmernde Teile der Häuser dort jenseits des Kanals.
Mitten aus seiner Kühle quollen nun die Tränen, in vollem, heißem Schwalle einsetzend, wie ein Schmelzfluß. Er spürte die breiten Bäche auf den Wangen. Es kam und kam und nahm kein Ende, wie ein Ausbluten. Er weinte wegen Ligharts, wegen des Vaters, wegen des toten Mannes, der dort unten gelegen hatte, wegen der Molche, wegen dessen, was gewesen war, was jetzt war, wegen gestern, heute, morgen, und so vielleicht für ein ganzes Leben voraus.
6
Es gibt Stockflecken der Seele. Feinere Leute pflegten das vor einiger Zeit noch »Komplexe« zu nennen. Heute trägt man längst wieder was anderes.
Bevor Conrad jetzt morgens – rechtzeitig wie immer – zur Schule ging, blieb er stets noch zwei oder drei Minuten mitten in seiner Stube stehen und sah sich nach allen Seiten um. In der Tat bedurfte er dieser kleinen Zeit der Sammlung so sehr, daß schon beim Waschen und
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