Ein Mord den jeder begeht
als Kokosch in aller Stille seine Geschäftsdispositionen für den nächsten Tag durchführte, mit Sorgfalt die laufenden Umsätze in Französisch und Erdkunde tätigend – zwei Tage später also knallte plötzlich die Tür an die Wand, geschah der unvermittelte Einbruch eines total ebenholzschwarzen Vaters in die stille Studierstube. Noch fehlte dieser Ebenholzschwärze der heiß ersehnte Rechtsgrund, der Einsprung in ihre finstere Bahn, noch fehlte den zur Entladung drängenden Gewalten der Zündschlag.
»Hast du vielleicht... ich suche seit einer geschlagenen Stunde schon...«
Jetzt erst kam es bei Kokosch zu einem schrecklichen Kurzschluß des Begreifens. Er erschrak in der Tat bis ins Mark. Er hielt sich ernstlich für verloren. Durch Augenblicke nur sah er an der Möglichkeit entlang, einfach zu verneinen, zu leugnen. Jedoch schon fingerte seine kalte Hand an die Brusttasche, alles verratend. Der Schrecken verlor jeden Boden, als Conrad den Stift nicht sogleich fand. Jedoch nun zog er ihn wortlos hervor.
Mit einer Gewalt, als gelte es, sein Kind im letzten Augenblick vor den Hufen scheuender Rosse zu retten – so riß Lorenz Castiletz das kleine Bleistiftende an sich. Unmittelbar danach saßen die ersten zwei laut knallenden Ohrfeigen.
»Kretin! Kanaille! Was hast du in meinem Zimmer zu suchen!?«
»Ich ...« sagte Conrad.
»Was du in meinem Zimmer zu suchen hast, frage ich!«
Das nächste Ohrfeigenpaar schlug ein.
»Ich ...« flüsterte Conrad.
»Rede, du Idiot!« brüllte der Vater.
Aber Conrad sagte nichts mehr.
»Wirst du antworten, du Aas?!« schrie Lorenz Castiletz. Nun begann der Tanz. Kokosch, am Genick gepackt, flog laut bumsend mit dem Schädel gegen den Kasten. Ein Tritt in den Hintern, ein Fausthieb in den Rücken, und die nächsten zwei Ohrfeigen kamen nach – regelmäßig detonierten sie, wie wenn eine Kanonenbatterie in Zugslagen schießt. Kokosch weinte natürlich. Sein Kopf war heiß, das Gesicht brannte in tiefem Feuer. Ununterbrochen geschah Schreckliches. Es trieb ihn vor dem Vater her, er taumelte hinaus, durch das Vorzimmer, gegen die verglaste Doppeltüre des Empfangszimmers zu. In sein Ohr brüllte es, daß er reden solle, aber er war dessen ganz unvermögend, und überdies erstickten jeden würgenden Versuch dazu neue Püffe und Knüffe.
Vom Rande des Lebens draußen, wo vereinzelte Segel noch treiben, kam, ganz beiläufig und blümerant, Frau Leontine. Conrad hörte, während er durch das Vorzimmer geprügelt ward, das Drehen des Schlüssels im Schloß. Er glaubte, es käme nun das Mädchen, jedoch seine Scham ertrank gleich wieder in dumpfer, knochenloser Verzweiflung.
Es war die Mutter.
Er wollte zu ihr fliehen. Viel rascher war sie bei ihm, vor ihm, das Kind deckend.
Wortlos, in völliger Stille, rangen durch Augenblicke in dem halbdunklen Vorzimmer jene Kräfte gegeneinander, von denen hier viel, ja alles abhing, und letzten Endes der Bestand dieser kleinen Familie überhaupt.
Lorenz Castiletz wollte ungestüm an seiner Frau vorbei, um sich des Jungen neuerlich zu bemächtigen. Jedoch, er rannte nun schon an eine Wand, und zwar an eine unsichtbare, die zu durchbrechen nicht mehr in seiner Kraft stand, abgeschäumt, wie er war, und den Keim des Zusammenbruchs schon in sich tragend.
»Der Bleistift... Niedertracht... er war in meinem Zimmer, dieser . . . Tunichtgut ...« und gleichzeitig mit solchen Worten geschah das letzte Aufbäumen, der letzte Durchbruchsversuch an Frau Leontine vorbei und in der Richtung auf Kokosch zu.
Jene aber regte kein Glied und keine Hand. Obwohl man bei dem mehr ringweis nach seitwärts als zielweis nach vorne gehenden Blick ihrer großen schräggestellten Augen überhaupt schwerlich den Punkt angeben konnte, auf welchen solch ein Blick eingestellt war: so empfand Lorenz Castiletz ihn doch auf seiner linken Hand ruhen, welche das zurückeroberte Bleistiftendchen hielt. Die Beiläufigkeit, mit der Frau Leontine unter anderem auch dorthin sah, lud ihr Schauen jedoch mit einer so abgründigen Verachtung, wie kein herabgezogener Mundwinkel, kein zum Spalt gekniffenes Auge sie jemals in dieser beinahe furchtbaren Weise hätten zum Ausdruck bringen können. Denn das Antlitz der Frau Castiletz war bei alledem von vollkommener Glätte und Ruhe, es kam von den zerstreuten Horizonten des Lebens draußen her, aus blauem Dunst der Ferne, blümerant herangeweht. So sah sie – unter anderem – auch den Bleistift, nickte und sagte
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