Ein Mord den jeder begeht
auffallende war.
In der Handelsschule gab es auch Mädchen. Die ersten erborgten Bemerkungen über jene wurden bald gewohnt.
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Jede Familie ist bekanntlich ein Quell von ganz einzigartigen Anekdoten. Diese Perlen des Familienhumors werden vom jungen Menschen früher oder später aufgenommen und weiterhin sozusagen vertreten – meist durch ein ganzes Leben. Denn im Grunde vermeint jeder, daß es bessere Geschichten als eben diese unmöglich geben könne.
Auch Conrad nahm solche Perlen auf. Sie eigneten sich nicht alle in gleicher Weise zum Weitererzählen, etwa im Kreise der Mitschüler. Am ehesten jene von dem alten Obersten, einem kürzlich verstorbenen Oheim des Vaters, der, noch dazu auf einer Art ererbtem Schloß, die letzten invaliden Jahre seines Lebens nach dem Kriege mit Überzeugung versoffen hatte. Hiezu diente ihm ein wohlbeschickter Keller, und ansonst drehte er jeden Pfennig dreimal um, wie man zu sagen pflegt. Lorenz Castiletz hatte diesen Oheim, eine zufällig durch jene Gegend führende Geschäftsreise kurz unterbrechend, besucht, weil ihm das andere männliche Verwandte sowohl wegen des kuriosen Originales als auch wegen dessen vortrefflicher Weine häufig anzuraten pflegten. Das kleine alte Herrenhaus fand er still und wie unbelebt zwischen den waldigen Hügeln der Sonneberger Gegend im Thüringischen liegen, die Einfahrt offen, kein Hund schlug an. Lorenz Castiletz stieg die Treppen, und mit ihm stieg eine bescheidentliche Reihe von Hirschgeweihen bis zum ersten, niederen Geschoß empor. Hier aber, als er sich eben umsah und nicht wußte, wie er seinen Weg fortsetzen oder an welche Tür er klopfen sollte, ertönte plötzlich schallender Gesang aus Männerkehlen. Es war jenes evangelische Kirchenlied, welches mit den Worten beginnt: »Eins ist not, ach Herr, dies Eine ...« Die Sänger wurden auch alsbald sichtbar, sie traten aus einer Flügeltür hervor, zwei Bediente offenbar, die einen großen leeren Korb, wie man ihn auch für die Wäsche benutzt, zwischen sich trugen. Castiletz, der sich mit höflicher Frage an sie wenden wollte, fand nicht das mindeste Gehör, beide winkten sogar mit bedauerndem Achselzucken ab, wobei sie ihr Singen keineswegs unterbrachen, sondern Strophe auf Strophe, sich die Treppe hinab entfernend, ihr Lied schon mehr brüllten als eigentlich sangen. Das ganze Haus schallte von diesem Liede, welches, in immerwährendem Absteigen jetzt schon aus einem unteren Geschosse, vielleicht aus dem Keller bei offengelassenen Türen zu klingen schien.
Jedoch bemerkte Lorenz Castiletz nunmehr hier oben eine halb in den Angeln geschwenkte Tür, durch welche er in einen Vorraum und weiterhin, wie ihm schien, in das Schreibzimmer seines Oheims sehen konnte, denn dieser saß dort drinnen in einem Lehnstuhle.
Der alte Herr erkannte den lange nicht gesehenen Neffen sogleich, begrüßte ihn jedoch nur mit einem stummen, aber herzlichen Nicken und Händedruck, wies ihm einen bequemen Sessel mit der Hand und schien ansonst mit größter Aufmerksamkeit dem aus den Tiefen tönenden Gesang zu lauschen. Dieser kam indessen bald wieder herauf, näher und näher. »Eins ist not, ach Herr, dies Eine ...« erklang es jetzt schallend unter der Türe – jedoch damit brach das Lied ab und vor dem alten Obristen wurde der Korb, halbgefüllt mit Weinflaschen, auf den Boden gesetzt: jener traf gleich für den Neffen und für sich die nächste Wahl. Dem ersteren ward dazu noch ein Frühstück aufgetragen, dessen jagdliche Einfachheit jedoch kaum im Verhältnisse stand zu einer Flasche Ruppertsberger Gaisböhl 1907, vor der man eigentlich hätte niederknien müssen.
»Der Gesang ist – damit sie im Keller nicht saufen«, sagte der Oberst. »Ich habe dort auch Fässer.«
Aber hintennach erfuhr Lorenz Castiletz, daß es früher noch anders gewesen. Da war nur einer allein, der Diener nämlich, singend in die Tiefen gestiegen, singend mit dem Weinkorbe wiedergekehrt. Einst jedoch fiel er mit diesem, singend, auf der Treppe – ob aus Ungeschick oder Hinterlist, blieb ungeklärt – manch kostbare Bouteille ward zerbrochen, und nun mußte, gleichfalls singend, sein Bruder, der Gärtner, mitgehen. Mißbilligend hatte damals der Obrist festgestellt, daß die Kerle Schweinsohren hätten und keiner von ihnen fähig sei, die zweite Stimme zu machen. »Das kann doch jeder Bierkutscher!« war seine Meinung. Aber jene blieben fest bei ihrem schlechten Gehör. Bald danach erzählte man auch im Verwandtenkreis,
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