Ein Mord den jeder begeht
empfangen wissen, und durchaus bei aufrechtem Gange! Übrigens gehörten Kragen und Krawatte schon zu seiner neuen, man möchte sagen Stadtromantik, ja diese wäre anders gar nicht mehr darzustellen gewesen.
Hier lag die Wurzel vielen und durchaus zwecklosen Herumlaufens (zwecklos, wenn man mit der eifrigen und tatsachenerfüllten Welt des Knaben vergleicht), jetzt aber nicht mehr im verlassenen Reich der Au, sondern weit jenseits des Kanales, in den inneren Stadtteilen. Hier lag sogar die Wurzel der Verabredungen und Spaziergänge mit Mitschülerinnen, welche Unternehmungen noch keineswegs ihrem eigentlich zuständigen Boden entsproßten.
Es war bei alledem vollends ausgeschlossen, etwa Enttäuschungen zu erleiden oder Nieten als solche zu erkennen. Dem grenzenlosen Maße dieser Erwartungen hätte keine Enttäuschung und auch keine Erfüllung die geringste Minderung widerfahren lassen: hier unterlag die, noch unbekannte, Umwelt einem Grade von Vergewaltigung, welcher ihr ein für allemal das Wort entzog.
Es mochte Conrad in seinen liebenswürdigen, aber auch kälbernen Kram passen, daß man ihn eines Tages, schon nach seinem fünfzehnten Geburtstage, während der ersten Hälfte der Sommerferien auf eine Reise schickte, und zwar allein. Verschiedentliche Verwandte (also auch »allerhand Tanten«) hatten sich den Jungen sozusagen für ein kurzes ausgebeten, weil sie Conrad schon lange nicht gesehen und auf den Herangewachsenen neugierig waren. Lorenz Castiletz mochte vielleicht noch etwas weiter blicken, als er dafür sorgte, daß sein Söhnchen bald, und aufs beste ausgestattet, losziehe. Und nun ging also die Reise nach zwei voneinander nicht allzuweit entfernten Städten im mittleren Deutschland, von Tante zu Tante.
Mit Schnellzügen, zweiter Klasse. Mit einem kleinen gelben flachen Koffer. Kragen und Krawatte verstehen sich hier am Rande. Die erste Gelegenheit benutzte er, um bei Nacht zu fahren.
Man fragte, ganz überflüssigerweise, noch einmal einen Beamten nach dem Zug, der schon da stand, in der Halle, mit seinen roten Lichtern am Schluß.
Gleich das zweite Abteil in dem vorletzten Wagen enthielt keinerlei alte Damen und Herren – welche Conrad vermied – vielmehr eine anscheinend sehr lustige Gesellschaft: dem Eintretenden wurde nämlich sogleich zugetrunken, und dann erhielt er auch ein Glas voll Likör: Man schien also entschlossen, sich durch den Neuling nicht stören zu lassen, sondern ihn lieber in die Kumpanei hereinzuziehen. Zwei außerordentlich wohlgekleidete junge Leute hatten ihre Füße auf die Bank gegenüber gelegt, ein Dritter saß am Fenster bei einem blonden Mädchen, neben welches man Conrad setzte, »damit sie auch mal eine Freude habe«, wie es hieß. Conrad bemühte sich sogleich beim Zutrinken, möglichst den nördlichen Sprechton der ganzen Gesellschaft anzunehmen, den er als ganz unzweifelhaft überlegen empfand, und besonders die beiden Eleganten. Das Mädchen fragte ihn freundlich, ja man könnte fast sagen, mit einer gewissen mütterlichen Obsorge, nach Herkommen und Reiseziel. Conrad antwortete darauf nur sparsam. Allmählich ging er in die Atmosphäre hier ein, empfand auch nicht mehr so stark den Geruch des verschütteten Schnapses, der sich mit einer fremden und vordringlichen Art von Parfüm mischte, beides auf dem schwachen Grunde des kalten Kohlenrauches, des Bahngeruches.
Man war noch keine zehn Minuten unter Lachen, Schwatzen und Trinken gefahren, als der am Fenster Sitzende, offenbar einem plötzlichen Einfall folgend – den er vorher seiner kichernden Nachbarin zuraunte – rasch seinem Gepäcke einen hellen großen Gegenstand entnahm und ihn den beiden jungen Menschen zum Auffangen hinwarf, die das Ding unverzüglich an Conrad Weitergaben.
Es war ein präparierter menschlicher Schädel, ein Kopfskelett oder »Totenkopf«, wie man zu sagen pflegt. Der Besitzer, ein Student der Medizin, wie sich jetzt herausstellte, nahm dieses Stück in die Ferien mit, zwecks Erleichterung des Lernens, seiner Meinung nach.
Allerhand Ulk war hier unvermeidlich. So etwa, daß man dem »alten Knaben« einen Hut aufsetzte und eine Zigarre zwischen die Kiefer klemmte, welche mittels zweier Spiralfedern von Messingdraht in den Gelenken festhielten.
Für Conrad war dies schon das Richtige. Er betrachtete den Schädel genau, während an der Stirnseite des Lebens allerhand bedeutsame Vorstellungen aufleuchteten. Er sah in die leeren Augenhöhlen, die aber jetzt ganz von der
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