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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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daß dort unten im Keller des alten Soldaten immer einer der Bedienten für zwei brülle, der andere aber söffe, auch für zwei.
    Das war nun freilich die richtige Geschichte etwa für ein Vorstandsabendessen des Fechtklubs ›Hellas‹ oder für die Zehnuhrpause in der Handelsschule. Bald wurde sie den Mitschülern so bekannt wie den Gästen.
    Anders verhielt sich’s mit einem, gleichfalls verstorbenen, Verwandten aus Kulmbach, wo man das namhafte Bier braut, was jener auch sein Leben lang mit Geschick und Fachkenntnis betrieben hatte. Jedoch nicht nur dies allein. Ein zweites, mit dem Bierbrauen nicht ohne weiteres zusammenhängendes Gebiet war von ihm stets erfolgreich bearbeitet worden: die Zauberei. Onkel Christian war darin hervorragend, ja sogar berühmt gewesen. Wie andere vermögliche Leute in ihrer Wohnung etwa ein Bibliothekszimmer halten, so jener ein Zauberkabinett, an dessen Wänden in hohen schmalen Kasten mit Glastüren sich alle Gerätschaften befanden, deren ein Zauberer nun einmal bedarf: die Zylinderhüte mit doppeltem und dreifachem Boden, die Würfel, die Tubusse aus Pappe, die Tischchen, die Kartenspiele, die Dolche, Bälle und Fräcke. In der Ecke aber stand, nebst manchem anderen, ein aus starken Holzplatten hergestelltes großes Behältnis, das der Onkel eben neu hatte anfertigen lassen. Für ein Wohltätigkeitsfest war von seiner Seite die Zusage des Auftretens erfolgt, und er gedachte mit Hilfe dieses neuen Kastens dem Publiko eine besondere Überraschung zu bieten: sich selbst nämlich, seine ganze, keineswegs dünne, vielmehr recht umfängliche Person, einfach hinwegzuzaubern, verschwinden zu machen.
    Das Kunststück wurde denn auch in einem kleinen Saale vor etwa zweihundert geladenen Gästen ausgeführt und gelang vortrefflich. Man öffnete die Tür, jedermann durfte herantreten und näher Zusehen, wie man ja auch schon vorher den Kasten aus der Nähe zu begutachten Gelegenheit gehabt hatte. Der Innenraum aber, dessen Tür eben erst vor aller Augen der Künstler mit freundlichem Lächeln hinter sich geschlossen hatte, war leer, und jener in unbegreiflicher Weise und wie ins Jenseits verschwunden.
    Er blieb es. Nach einiger Zeit meldete sich freilich Unruhe und Besorgnis. Jedoch viel später erst fand man die vollständige Person des Onkels Christian im Doppelboden des seltsamen Kastens, der durch seine Zeichnung und verschobene Perspektive alle getäuscht hatte. Onkel Christian aber war tot. Ihn hatte, durch die Hitze vielleicht befördert, ein Herzschlag gerührt, wie dann der Arzt feststellte. Jedoch wirkte diese Feststellung keineswegs so erledigend und befreiend, wie das bei aufgeklärten Leuten eigentlich hätte der Fall sein sollen.
    Mit dieser Geschichte machte Conrad weit weniger sein Glück, ja er versuchte es auch kaum, und im Fechtklub ›Hellas‹ dürfte sie ebenfalls nicht sehr verbreitet gewesen sein. Gleichwohl – gerade diese Anekdote stand Conrads Herzen wirklich nahe, und wenn er sie erzählt hätte, dann wär’s nicht nur die früher angedeutete Vertretung des Vätererbes durch den Nachfahren gewesen, sondern wahrscheinlich ein Lebendigeres und Selbständigeres: aber vielleicht lag’s gerade daran, daß er sie verschwieg.
    Jedoch, den jungen Menschen streifte sehr bald der Wunsch, solchermaßen Zugespitztes oder Abgerundetes – wie man will – selbst zu erleben, ja gewissermaßen selbst hervorzubringen.
    Jene Abenteuerlust, der das Leben stets mit seiner Stirnseite sich zukehrt, an welcher überall bedeutende Benennungen leuchten, in deren Form es ganz gefaßt bleibt – so daß fast alles gar nicht anders als neu und gut, gar nicht anders als reizvoll erscheinen kann – jene gewisse Abenteuerlust, für die hier eine große Stadt den zunächst ausreichend geräumigen Tummelplatz abgab, lockte den Halbwüchsigen. Und wenn nach dem unvermuteten, ja fast plötzlichen Abscheiden von der Knabenzeit alles so sauber und abgemagert dagestanden hatte wie etwa die Vorhalle des neuen Schulgebäudes, in welche man nun allmorgendlich eintrat – hier, in dem Drange, Geschichten nicht nur zu hören, sondern recht eigentlich selbst welche zu machen, erwuchs eine siegreiche Macht der Verschleierung jener Leere im Vorland erwachsenen Lebens.
    Denn überall, in jener Gasse dort, auf dieser Treppe hier, konnte »das Leben« überraschend und unerhört hervortreten.
    Mit dessen verhältnismäßig seltener Neigung zu derlei war Conrad noch nicht bekannt.
    Er würde es wohl zu

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