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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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durch ein kleines Astloch, das sich einen halben Meter etwa über dem Boden in der Bretterwand öffnete. Conrad kniete alsbald davor und sah hindurch, warum eigentlich, blieb ganz dunkel, er wurde seines Tuns erst inne, als schon die neue Körperhaltung eingenommen war. Die Nachbarzelle war von hier aus zur Gänze und leicht überblickbar. Conrad beobachtete, wie seine Tante den Riegel vorlegte und sodann unverzüglich ihr leichtes Sommerkleid über den Kopf abzog. Nun, auf dem Bänkchen sitzend, entledigte sie sich der Schuhe und Strümpfe, dann stand sie wieder auf, und – unaufhaltsam ging’s weiter. Endlich stieg sie in ihr Schwimmkleid und zog es am Körper empor. Conrad fiel vom Astloche ab, wie eine reife Pflaume vom Baum fällt. Sein ganzer Leib zitterte, in wilden Schwingungen, es gelang ihm jedoch, sich lautlos auf das Bänkchen niederzulassen.
    Als ob es brenne und er retten müsse, so eilte, ja hetzte er in Gedanken durch das ganze in sich abgeschlossene vielfältige Gefüge der Gäßchen, Tore, halb verhangenen Fenster, Bogengänge und matterleuchteten Zimmer jenes alten Stadtviertels, das vor kurzem noch, im Vorblick, die Zeit nach den Ferien mit einer bestimmten Form des Behagens erfüllt hatte. Jedoch, hier war mit einem Schlage alles ausgestorben. Er fühlte sich wie beengt und seiner Freiheit beraubt und aus einer breiten Überschau in ein eilfertig ziehendes enges Gerinne geworfen, das ihn wegtrug aus seiner wählerischen und genießerischen Arglosigkeit, jedoch keineswegs etwa auf die dicke Frau zu, die er eben gesehen hatte, sondern in der Richtung auf – Ida. Der junge Bürger lernte in diesen Augenblicken seltsamerweise Respekt vor dem, was das Leben kostenlos zu verabfolgen pflegt; und während er gleichzeitig gegen die unsinnige Vorstellung ankämpfte, mit dem Wasser in der räumigen Rinne der Sägemühle dort am »Wassersteige« – bachaufwärts zu treiben, auf das Brücklein bei der Wäscherei der Frau Rumpler zu: während dessen flehte er sozusagen alle Genien vergangener Genüsse an, wenigstens einen Bruchteil jener geheimnisvollen Lebendigkeit anzunehmen oder eigentlich bei ihm selbst hervorzurufen, welche Tante Berta, die arglose, in seinen zitternden Gliedern entfesselt hatte – nur um sie alsbald an ein Fräulein Ida Plangl großmütig abzutreten . ..
    Und Conrad saß, schief und krampfig, auf dem Bänkchen hier in der Kabine, mit einem Leibe, der jedem Lehrer einer atheniensischen Ringschule, also etwa dem Philosophen Platon, die Hoffnung gegeben hätte, diesen Jüngling am Ende zu einem olympischen Siege führen zu können.
    Unser Jüngling aber fühlte sich schon beim nächsten Male, als er neben der bescheidentlichen Ida das Waldtal hinaufschritt, in der bewußten Rinne laufen: und eilfertiger zogen die Wasser jetzt auf einen blonden Kopf zu, der ein wenig nach dem gewissen, für Conrad nicht recht angenehmen Haaröl oder nach einer Pomade oder dergleichen roch. Fiel ihm jedoch dieser Geruch etwa abends im Bette ein, so gewannen gerade im Zusammenhang damit die Gedanken an das Mädchen besondere Gewalt. Jetzt aber, neben ihr auf dem Moose liegend, war der schwache Duft beinahe störend.
    Sonst roch es nach Fichtennadeln und der Walderde, so würzig, daß man vermeinen hätte mögen, es befänden sich Steinpilze in nächster Nähe. Die langen Stämme stiegen wie Spindeln alter Wendeltreppen zwischen dem strahlig ausgebreiteten Geäste empor. Von den dunklen schmalen Wipfeln dort oben vor dem Himmelsblau wußte man mehr, als daß man sie sah.
    Unser Pärchen machte sich auf und wanderte durch das Waldtal bis zur Wasserscheide. Hier traten die Nadelbäume zurück, am fallenden Hange stand lichtes Laubgehölz da und dort, zwischen tiefen Wiesen. Es gab flache Wege, Bächlein und Bänke. Die sanfte Talsenke hier ließ keinen Blick auf die Ebene frei mit ihrer Vorahnung der großen Stadt dort rückwärts, sondern wölbte sich drüben wieder in Hügeln auf. Sie fanden ein Gehöft an einem Sträßlein, und sie tranken dort in einem Gartenhause Milch. Conrad fühlte sich durchaus in einem anderen Tale, das er selten betreten hatte, das so gut wie neu war: in einem gewissen Sinne ebenso wie das Empfangszimmer der elterlichen Wohnung für ihn einst neu gewesen war, bei beginnendem Abscheiden von der Kindheit. Die Sonne schien über den Tisch, über des Mädchens Schulter und weißes Kleid, und in der Stille wurde das Murmeln des vorbeifließenden Baches hörbar, es sprach sich nun aus

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