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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Gedächtnis zu behalten. Ihr fiel an seinem Benehmen zunächst nichts auf. Da diese ganze Geschichte doch ihre Eitelkeit stark zu reizen schien, war sie mit sich selbst beschäftigt.
    »Im ganzen war’s eigentlich schrecklich komisch. Und jetzt bin ich so glücklich, daß ich wieder mit dir sein kann«, schloß Frau Hedeleg ihren Bericht.
    »Café Belstler, mit gestrigem Datum, 6 Uhr 30 Minuten: sie: ich glaubte, für Sie nur als bewährte Kraft zu existieren – er: ganz im Gegenteil, seit Jahren verehre ich Sie schon – sie: Herr Castiletz, das freut mich außerordentlich, aber ich bin doch verheiratet – er: um so besser, ich auch – sie: so etwas hätte ich mir nie von Ihnen erwartet – er: sehe ich denn so alt aus? – sie: nein, das allerdings gar nicht – er: glauben Sie mir, daß ich meine Haare nie färbe, und Zähne hab ich bessere wie viele junge Menschen (zeigt sie ihr). – Dann Erzählung der Geschichte vom Onkel in Thüringen mit den zwei Dienern, die singend in den Keller steigen müssen . . .«
    »Was murmelst du denn?« fragte Anny erstaunt.
    Er war sich nicht bewußt gewesen, zu murmeln.
    »Weißt du, ich hab neulich einen ganz entzückenden Tango gehört«, sagte er leichthin, »und kann mich ohne den Text nie genau darauf besinnen. Jetzt fehlt mir aber schon beim Text eine ganze Zeile.«
    »Ist es der?« sagte sie, und pfiff die Melodie.
    »Ja!« rief Conrad erfreut.
    Daheim, in der Nacht, murmelte Conrad wieder alles herunter, warf es dabei in Schlagworten hin, und setzte dann das Protokoll vollständig auf. Er arbeitete wie besessen, sauber und genau auch in der Schrift. Zwischendurch sagte er einmal halblaut vor sich hin: »Na – Molche?« Um zwei Uhr war alles fertig, das Heft im Köfferchen verschlossen, und er todmüde.
    Kaum eine Woche danach fand ein neuerliches Stelldichein zwischen Frau Hedeleg und ihrem Chef statt, wovon Conrad wieder im voraus unterrichtet war. »Es ist mir von ihm geradezu abgepreßt worden!« hatte Anny geklagt. Conrad blieb an dem betreffenden Abende daheim und aß allein mit der Mutter zur Nacht. »Mein Mann kommt heute erst um halb zehn, Sophie, halten Sie das Abendessen für ihn dann bereit«, sagte Frau Leontine zu dem Mädchen.
    Die Lampe schwebte im Speisezimmer über dem Tisch und den Schüsseln, das weiße Tischtuch warf ihr Licht als flachen Block zurück und senkrecht empor. »Nun, Kokosch, zu Ostern ist’s aus mit der Schule«, sagte die Mutter lachend, »jetzt wirst du schon ein junger Herr.« »Kommt noch die Reutlinger Webschule«, antwortete Conrad. »Ja, richtig . . .«, sagte sie, heiterzerstreut. Das Segel schlug um, zog wieder in einen unbekannten Horizont hinaus. Ihre Augen sahen schräg und freundlich an den Speisen vorbei, sie vergaß, sich was zu nehmen, und knabberte an einem Rettich.
    Conrads Wissen bewohnte jetzt keineswegs die Mitte seines Kopfes und jene, wenn man will, »romantischen« Reize, die er von solcher eigenartig pointierten Lage erwartet hatte, sie blieben aus. Sein Wissen, statt, wie eine immerwährend platzende Granate (sofern es derartiges, den Kriegern zur Freude, gäbe) alles hier gleichsam um sich herum anzuordnen, die Mutter, den Tisch, die Lampe, die dunklen Ecken – statt dessen blieb es dünn, hatte sich irgendwohin nach seitwärts verzogen und spannte nicht die Hülle der Verschwiegenheit, unter welcher es lag. Ja, die leichten und einträchtigen, hier mit der Mutter geführten Gespräche genügten vollends, um es verschwinden zu machen, und darüber hinaus nahmen sie für sich selbst noch Form an und blieben durchaus nicht nur, was sie eigentlich hätten vorstellen sollen, eine bemalte Wand nämlich, die den Ausblick in die wirkliche Landschaft des Lebens geheimnisvoll verdeckte. Ja, das hätten sie eigentlich vorstellen sollen, und dieser ganze Abend hätte nichts anderes vorstellen sollen. Aber es kam nicht so. Conrad empfand die Sache als geradezu mißlungen.
    »Du ißt ja gar nichts, Mama«, sagte er, sich unterbrechend.
    »Doch!« erwiderte sie und hielt ernsthaft-lustig ihren Rettich empor.
    »Aber das geht doch nicht«, sagte Conrad lachend.
    »Ich hatte nur vergessen«, gab sie freimütig zu, bediente sich und aß jetzt ganz tüchtig.
    Etwas vor halb zehn Uhr kam Lorenz Castiletz nach Hause. Conrad hatte, als er den schweren und zugleich weichen Schritt seines Vaters im Vorzimmer draußen hörte, die deutliche Empfindung von etwas Unheimlichem. Er wußte zum erstenmal, wenn auch nur durch wenige

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