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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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brachte Unruhe. Man hatte eine Ahnung von Unverläßlichkeit bei ihnen, und von ihrer Fähigkeit, so Schulen wie Lebensziele rasch und oft zu wechseln. Das möglicherweise sich hervorwagende Mitleid mit ihrem unglücklichen Zustande jedoch wurde niedergehalten durch ein geheimes Wissen davon, daß jene sich bei ihrem Zustande im Grunde recht wohl fühlten und im Besitze einer gewissen Unbefangenheit waren, die einem selbst fehlte. Dazu gehörte dann auch das Wechseln in ein anderes Gleis hinüber, ernsthaft besehen eine schwer zu fassende Vorstellung, deren Umsetzen in die Wirklichkeit schon außerhalb des Denkbaren lag. Sie aber konnten das, sie fühlten sich unglücklich, sprachen davon und verschwanden eines Tages von der Schule – und waren also in irgendeiner Weise überlegen, demnach nicht zu bemitleiden. So hatte Conrad auch dem Sohne eines großen schwäbischen Tuchfabrikanten gegenüber empfunden, der, väterlichem Zwange gehorchend, auf das Reutlinger Technikum gekommen war.
    Diesen jungen Mann sah Conrad nun vor sich, im Halbschatten der Vorstellung nur, etwa rechts von dem Buche, dessen Blätter er wandte, um jetzt das Bild einer Spulmaschine und dann jenes einer Zettelschärmaschine zu betrachten (beide Zeichnungen fand er »wirklich gut«). Er sah den schmalen Kopf mit den großen, etwas feuchten Augen, und den Ansatz der Haare an den Schläfen, in Form von sogenannten »Koteletten« geschnitten, also ein Stückchen an den Schläfen herabreichend. Sie waren beide am Gange vor der Direktionskanzlei gestanden, mit anderen Kameraden, und jener hatte gesagt:
    »Wenn ich von hier nur schon wieder weg wäre!«
    Und die anderen ließen diese Äußerung an sich abgleiten, was hätten sie auch sonst damit anfangen sollen, und mit der von Abneigung erfüllten Bewegung des Kinnes, mit welcher jener die Stiegen hinunter und in der Richtung des Webersaales wies. Jedoch, nun kam das Merkwürdige: diesen selben Kameraden hatte Conrad nach seiner Rückkehr von der Webschule in der Vaterstadt angetroffen, wo sich jener längst in guter Stellung bei einer Bank befand . . .!
    Da war nun die Ahnengalerie der Familie Veik, vorne im Buche, lauter Weber: ein Mann mit großen, sehr guten Augen, daneben seine Frau, wuchtigen Doppelkinns, mit einem Imperatorengesicht. Ferner Herren mit den hochgeknöpften Röcken der achtziger Jahre.
    Conrad las noch: »den Arbeitern und Angestellten war er in allen Stücken ein Vorbild, durch eisernen Fleiß, jedoch auch durch Güte und Hilfsbereitschaft. . .«
    Und hier sah er denn, daß er’s für heute nicht mehr zwingen würde, das Album ganz gründlich durchzunehmen. Nun, er war ja immer noch weit besser vorbereitet als früher einmal im Herbst für die Schule . . . Dieser Satz schwebte in seltsamer und losgelöster Deutlichkeit über ihm, stieg gegen die Zimmerdecke empor, wo der abgedämpfte Schein der Nachttischlampe sanft und wolkig lag. Ein Geruch berührte ihn plötzlich, senkte sich für einen Augenblick herab, ein Duft, von dem er wußte, daß er ihn eigentlich nicht zu lieben habe, daß er unangenehm sei: etwas wie Haarpomade. Und doch war es erquickend, erfreuend, ja – wie ein Bächlein, das ihm entgegenlief. Jedoch drängte sich jetzt ein männliches Gesicht vor, schwebte durch Augenblicke nah heran aus den wattierten Hintergründen des Halbschlafes: lang und hoch, weich und schwach, ein wenig feucht scheinbar an den herausgemagerten Backenknochen.
    »Ida!« sagte Conrad deutlich, als riefe er jene, weil das Wässerlein, oder was es sonst war, verdrängt ward und versickerte. Er wurde wach von seinem eigenen gesprochenen Wort, das zwischen den schweigenden Möbelstücken hing, selbst wie ein Ding, jedoch ein klingendes.
    Conrad benützte die letzten ganz klaren Augenblicke, um das Licht abzuschalten. Die Traumlage, in welche er alsbald wieder zurücksank, wäre mit Hohenlochers Worten – die ihm jetzt seltsam gehöht erschienen – leicht zu ordnen und zu klären gewesen; das war unbedingt einleuchtend. Indessen, er brachte diese Worte nicht mehr in ihre Reihe als Satzgebilde. Nur dieses gelang noch:
    »Die neuen Dinge kommen dünn, ganz dünn. Ihr Inhalt füllt sich. Mit den leeren Rahmen. Zuerst hat man den Zug herausgekramt.«
    20
    Die leeren Rahmen füllten sich. Mit ihren zuständigen Inhalten, natürlicherweise. Die nächsten Wochen und Monate vergingen dabei wie in wenigen Tagen. Einmal schon war Conrad auf Urlaub daheim beim Vater gewesen, dem nunmehr die Tante

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