Ein Mord den jeder begeht
einem blonden älteren Mädchen – und da erwies sich nun sein scheinbarer Hunger von vorhin als eine Erregung ganz anderer Art. Castiletz warf sich im Bett herum, setzte sich aufrecht, entfaltete den Plan, und eroberte weiter seine Stadt, darin er leben sollte, allein in dieser reizenden Behausung.
Er wollte sich in seine Stadt rasch eingewöhnen, er wollte alles wissen. Dankenswert war es und sicher nützlich, daß Herr von Hohenlocher ihm einiges über die Familie des Chefs (Conrad dachte wörtlich so: »des Chefs«) gesagt hatte . . .
Und da fühlte Castiletz plötzlich, daß, sozusagen als ein Turm in der Schlacht (am homerisch zu reden, weil doch diese alten Römer und Griechen Bewohner von Schultaschen sind, also in irgendeiner Weise nützlich!) – als ein Turm in der Schlacht also ragte Herr von Hohenlocher zwischen allen durcheinanderkreuzenden und durcheinanderfädelnden Vorstellungen, klang und schwang in allen summenden Saiten, zog alle zulaufenden Drähte auf sich, wie jene über den Dächern sitzenden kurzen Gittermasten, um welche ein ganzer Stern von Leitungen zusammenläuft. Ja, der Herr Nachbar stand da im Hintergrunde aufgerichtet wie das Maß aller Dinge, und mit jedem Wort verpflichtend. Conrad wunderte sich; er empfand einen Druck von dieser Seite her.
Darum griff der junge Forscher im Vorlande des Lebens jetzt nach dem Album.
Der Einband und die starken Blätter von Büttenpapier wurden durch eine goldene Schnur mit Quasten zusammengehalten. Was hier vorlag – kühl, rein und großflächig, in schlichtem Prunk, schönem Druck und mit dazwischen eingeschalteten, nicht üblen Lithographien, Bildern aus dem Betriebe, mit allen erdenklichen Maschinen und den daran arbeitenden Menschen – was hier vorlag, das war gleichsam die Verklärung einiger tausend Leben, der Himmel sozusagen, in den sie gekommen waren, nach einem unter jenen weithin auf und ab stufenden Dächern verbrachten Dasein, jenen niederen Dächern mit halbem Giebel und Oberlicht, die jeder kennt, etwa von beiläufigen Blicken her, die man im Schnellzug sitzend, durchs Fenster hat fallen lassen; da drehte sich denn eine solche sauber aufgestellte Reihe von Kasten in das Blickfeld, und wieder heraus, während die Schornsteine als rote Schüsse hoch ins Blau sprangen; und sogleich war wieder alles in den rasch hinter uns zusammenschwankenden Horizonten der Erinnerung verschwommen und versunken. Die Lithos hier aber zeigten jenes beim Schlagen der Weichen an uns vorübergeflitzte Leben in seiner Dauerform, in seinem Dauergeruche. Und dem unschuldig, aber genau aussagenden Stifte des Künstlers – ein Photograph hätte sich vielleicht näher an den festlichen Zweck zu stellen gewußt – diesem Stifte war alles auf das Blatt geraten, nicht nur die riesigen und verworrenen Apparaturen in den gedehnten Arbeitshallen, auch die Reizlosigkeit junger Weiber, die ihr Leben über Spindeln verbrachten, und das alte Gesicht einer tief in ihre Bedürfnisse verstrickten späten Zeit zwischen all ihrem ölig riechenden Fortschritt.
Jedoch – eben dies alles ersah Conrad Castiletz nicht aus dem Buche. Jene Art von leisem Grauen und ängstlicher Beengtheit, die den Laien anfallen kann, wenn er industrielle Anlagen betritt und im Betriebe sieht, diese Abneigung gegen sterile und mühselige Gerüche, durch die sich noch heute der Wald, worin wir einst gelebt, melden kann – alles das war Conrad fremd. Von der Schule und Ferienpraxis her waren ihm Lärm, Geruch (wenn’s nicht gerade der einer Färberei war) und die Art des Lichtes in Sälen voll von Maschinen, sei’s Weberei, sei’s Spinnerei, vertraut, fröhlich und längst gewohnt. Er sah diese Dinge nicht nur von außen wie ein Passagier, sondern eben erfüllt und belebt durch die ihnen innewohnenden zahllosen kunstreichen, einfallsreichen und witzigen Zusammenhänge.
Auf dem Technikum zu Reutlingen hatte es wohl vereinzelte Schüler gegeben, die solcher inneren Wohlfahrt nicht genossen. Studenten von der Art Conrads bewahrten jenen gegenüber vom ersten Augenblicke an eine gewisse freundliche Zurückhaltung; man wußte es von vornherein, wer da nach einem halben oder ganzen Jahr die Schule unverrichteter Sachen und anderswohin sich wendend, in eine unbekannte Richtung, verlassen würde. Es gab solche – seltene Ausnahmen – die dort zu Reutlingen unglücklich waren, mit denen man also nichts anzufangen wußte; ein Verkehr mit ihnen konnte kaum von Nutzen sein, war befremdend und
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