Ein Mord den jeder begeht
die Fahrbahn queren wollte, was er auch anstandslos noch hätte tun können – wenn Frau Schubert nicht just an diesem schönen Frühlingsabende sich in einem jener Zustände befunden hätte, die Herr von Hohenlocher seinerzeit so genau zu beschreiben für notwendig fand: sie kam Castiletz geradewegs entgegengelaufen und, merkwürdig genug, Conrad wußte im selben Augenblicke, als er ihrer gewahr wurde, auch schon, was mit ihr los sei. Sie sah zu Boden. Mit einem kleinen kontrakten Gesicht wie eine nasse Faust. Sie rannte sozusagen ganz erbarmungslos vor sich hin, und in der Mitte der Straße auf Conrad los, der auswich, worauf sie nach derselben Seite zuckte, und dann wiederholte sich das Spiel, dieses Mal nach links. Und damit war der Tankwagen heran, der auf allen vier Rädern bremste, daß es schrie. Castiletz riß die Schubert einfach auf seine Seite herüber und zurück. Sie sah zu ihm auf, wie ein Mensch, der aus einem tiefen Brunnenschächte heraufblickt. Aber er hatte sich die von Hohenlocher’schen Glasaugen längst zum Gesetz gemacht (damit alles in Ordnung sei) und ließ sie einfach stehen.
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Die Rahmen füllten sich; mit ihren zuständigen Inhalten, natürlicherweise. Jene Rahmen wurden dabei mit der Zeit unsichtbar; die Inhalte bedurften ihrer sozusagen gar nicht mehr, sie hielten von selbst zusammen, umschlossen Conrad Castiletz von allen Seiten. Daß man da ursprünglich nur einen Zug herausgekramt hatte und irgendwohin gefahren war – diese Vorstellung bewohnte ihn längst nicht mehr in anschaulicher Weise. Einzelheiten der geänderten Lage und Verfassung traten wohl aus dem eigenen Inneren hervor, im kurzen und unklaren Lichte eines halben Seitenblicks, der immerhin lange genug verweilte, um Conrad Verwunderliches zu zeigen: etwa den Umstand, daß hier in einer gewissen Richtung überhaupt noch nichts – absolviert worden war, um nun einmal bei des Conrad Castiletz’ Reutlinger Sprachgebrauch zu bleiben. Dann und wann plagte ihn abends der Heißhunger vor dem Einschlafen, stieg die Vision eines ›Kimmichers‹ empor – jedoch nie so weit an die Oberfläche des Bewußtseins, daß Conrad etwa in der Tat irgendeine Kleinigkeit zum Essen – etwa ein Stück Gebäck – auf dem Nachttischchen hätte bereit gehalten. Eine gesteigerte und gespannte Aufmerksamkeit in bezug auf den weiblichen Teil der städtischen Bevölkerung dagegen war schon geradezu gewohnheitsmäßig für Castiletz geworden. Was aber gewisse Gäßchen in den alten Stadtteilen betraf, die seiner Aufmerksamkeit keineswegs entgangen waren, so lief hier – vornehmlich infolge von fallweise sich ergebenden Abhaltungen und Verhinderungen äußerer Art – die Sache jedesmal ganz ebenso ab wie mit den ›Kimmichern‹.
Man spielte Tennis. Vornehmlich samstags und sonntags auf einem brauchbar angelegten Platze, der sich im Park der geheimrätlichen Villa befand. Castiletz spielte viel, und mit der Zeit vortrefflich (»beim Tennis sahst du heute sehr gut aus«, hätte Albert Lehnder gesagt). Der alte Veik liebte es, stundenlang auf jener erhöhten Plattform zu sitzen, wo sich bei Tennisturnieren die Schiedsrichter aufzuhalten pflegen. Dort oben, auf dem mittels Treppchen zu ersteigenden stockhohen Gestelle aus dunklem gebeiztem Holz, war dem Geheimrat in der Sonne wohl, sei’s vorne auf dem Bänkchen, von wo er höchst aufmerksam das Spiel verfolgte, sei’s in seinem Liegestuhl, welcher auf der breiten Plattform genügenden Raum fand und von einem gewaltigen bunten Schirm überdacht war.
Manon Veik im Einzel gegen Direktor Eisenmann (diese Zusammenstellung hieß im inneren Sprachgebrauche des Geheimrats »the old boys«). Jedoch, sie spielten verhältnismäßig recht achtbar, und Eisenmann hatte es keineswegs leicht. Da sie gut placierte, dampfte er nur so auf dem Platz herum, und nicht selten wurde er geschlagen. Solche Spiele ließ sich der alte Veik nicht entgehen, kam sogleich aus dem Liegestuhl nach vorn aufs Bänkchen, wenn das Paar antrat, und nun tönten aus der Höhe anfeuernde Zurufe und viel Gelächter, jedoch auch mancher Ausruf der Bewunderung.
Allermeist aber fegte die Jugend über den rötlichen Sand, und hier wurde schon ganz ernsthaft und zum Teil überaus scharf gespielt, es gab ein paar tüchtige Kerle darunter, sowohl unter den Mädchen wie unter den jungen Leuten. Mit der Zeit setzte sich die Gepflogenheit fest, daß beim Doppel jene Seite, auf welcher Conrad Castiletz spielte, der anderen eine Vorgabe
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