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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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sah sich um. Das Licht vieler elektrischer Kerzen unter topasfarbenen Schirmen drang überall hin, vornehmlich aber gegen ein großes Bild, welches über einem winzigen Sekretäre hing.
    Es war ein Frauenbildnis. Jedoch er stand davor und sah hinein wie in eine Landschaft. Mit Nachahmung der Manier des achtzehnten Jahrhunderts etwa gemalt, zeigte das Bild Antlitz und blendende Schultern eines Mädchens in noch früher Blüte, das, in einem schweren Armsessel sitzend, drei oder vier Blumen mit der linken Hand vor sich hinhielt, den Blick jedoch anderswohin gerichtet hatte, nämlich geradewegs auf den Beschauer. Die leicht schräg stehenden Augen, unter welchen die vollen Wangen ein ganz klein wenig drängten, waren tiefblau, jedoch das Haar lag schwer und schwarz um diese weiße Stirne. Der Hintergrund des Bildes war hell; aber man sah darauf nichts als einzelne mit leichten Pinselstrichen angedeutete vergehende Windwolken.
    Hier zum erstenmal vor diesem Bilde, und in wenigen Bruchteilen von Augenblicken, wurde für Conrad ein bisher nie Vorstellbares anschaulich: nämlich die Möglichkeit eines ganz anderen Lebens, als das seine war, ja das Wechseln in ein anderes Geleis hinüber – dies wurde denkbar, ja, es wurde in seltsamer Weise wirklich. Das Geräusch der Gäste drang aus den benachbarten Räumen stärker herein, anschwellend und rauschend, wie lange Schleppen, welche das Gespräch dieser Vielen hinter sich herschleifte. Conrad vernahm es, da es an den Rand einer ungeheuren Stille trat, die in ihm selbst herrschte, an den Rand einer Versunkenheit, wie er sie seit seinen Knabenzeiten kaum mehr gekannt hatte. Wohl, er lief seines Wegs. Jedoch, da lief ja, handhaft nahe, noch ein ganz anderer Weg. Er sah in das stumme Antlitz des Mädchens, welches ihn da aus dem Bilde anblickte, wie in einen fernen Horizont hinein, wie in den letzten tiefgestaffelten grünen Streif des Abendhimmels darüber. Aber, im plötzlichen Durchbruche zu einem noch weiteren Begreifen, das gleichwohl unvollkommen blieb, schob sich ein zweites Gesicht dazwischen, unschön, wie es war, und doch vor diesen Horizont gehörig, und vor gar keinen anderen: weich und schwach, ein schmaler Kopf mit großen feuchten Augen, und den Ansatz des Haares an den Schläfen ziemlich weit herabreichend: es war der Reutlinger Kamerad, der die Schule verlassen hatte, so vermeinte Conrad jetzt. Nein, er war es nicht. Damit erlosch die innere Form dieser Augenblicke.
    »Wer ist es?« sagte er zu dem hinter ihm stehenden Herrn von Hohenlocher, auf das Bild weisend.
    »Der Klabautermann«, erwiderte dieser ruhig. »Louison Veik, die Tote.«
    Den guten Baurat schien diese Ausdrucksweise zu erschrecken, er sah bedauernd, begütigend drein. Conrad, wie in rätselhaftem Nachklang zu den früher durchlaufenen Sekunden, erinnerte plötzlich und deutlich den Geruch von frischem Lack, irgendwoher aus der Zeit, jedenfalls kam’s aus ihm selbst, das wußte er. Schweigend hielt die Gruppe der drei Herren vor dem Bilde, niemand bewegte sich, auch nicht, als nun der Schwall von draußen herandrang, jetzt die Schwelle überschritt: und da stand Marianne Veik in dem Türrahmen von tiefschwarzem Ebenholze, blond und weiß.
    Nur kurz sah sie zu dem Bilde auf; und dann Conrad in die Augen. Er ließ seinen Blick in dem ihren ruhen und empfand deutlich, wie hier ein Maßstab sich wieder an ihn legte, welcher, in der gegebenen Lage, so ganz unbekannt oder unbegreiflich für ihn nicht mehr sein konnte.
    23
    Man darf hier boshaft werden und sagen, daß Conrad Castiletz durchaus geordnet in seine Verstrickung fiel. Und Herr von Hohenlocher soll tatsächlich etwas von dieser Art geäußert haben. Nun, durchaus geordnet: jede regelmäßige Tätigkeit ohne Ausnahme, auch wenn sie anfänglich den Menschen sehr einnimmt, anstrengt und ihn sozusagen ganz zudeckt, baut sich mit der Zeit ins Leben ein, und das Gewohnte erfordert einen immer geringeren, ja am Ende einen kaum mehr spürbaren Aufwand von Kraft. Dieses Gleichgewicht hatte Castiletz längst erreicht; schweigend verständigt mit dem alten Eisenmann (besonders des Morgens das Schweigen sorgfältig bewahrend!), tat er seine tägliche Arbeit, die ihm nichts Neues, sondern bald nur mehr wiederkehrende Fälle brachte; und dazu monatlich ein ansehnliches Gehalt, welches zusammen mit den sehr reichlichen Zuwendungen von seiten unseres Herrn Lorenz ein Einkommen ergab, das für einen so jungen Menschen wie Conrad als ungewöhnlich hoch

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