Ein Mord den jeder begeht
Unter der Besatzung unseres Schiffes hier bemerkte man übrigens gleich zu Anfang Frau Schubert (Herr von Hohenlocher gestattete ihr solchen gelegentlichen Nebenerwerb), die, während das junge Paar noch zu Rom geweilt hatte, in der neuen Wohnung mit neuen Vorhängen in die Stehleitern aufgeentert war.
Sonst und zu Unterhaltung und Umgang hatte auf der Castiletz‹ Heuer genommen, wer gerade dabeistand; etwa Peter Duracher mit sämtlichen »jungen Leuten vom Tennisplatz«, worunter nicht wenige mit Sonnengebräuntheit übertünchte Gräber sich befanden. Herr von Hohenlocher nannte diese Jünger und Jüngerinnen des Prokuristen die ›Caterva‹ – wie einst der römische Geschichtsschreiber Sallustius des Catilina Freundesschar – jedoch ohne Duracher, den er nicht leiden konnte, für einen Catilina zu halten. Aus der eigenen Sammlung steuerte Herr von Hohenlocher den Baurat Lissenbrech bei. Zu diesem hatte er Conrad schon lange vor dessen Verlobung einmal mitgenommen, um ihn die Schlacht von Redfontein aus den Burenkriegen sehen zu lassen – das konnte man nämlich bei Herrn Lissenbrech, und überhaupt gab es dort in Abständen immer eine neue Schlacht, von Hohenfriedberg bis St. Privat, von Colombo bis Königgrätz: alles dargestellt mit vielen Tausenden von Zinnsoldaten, kleinen Kunstwerken der Genauigkeit hinsichtlich der richtigen Bekleidung und Bewaffnung jedes Zeitalters. Sie liefen, schossen, ritten, fielen, knieten oder lagen verwundet auf mächtigen Tischen von mehreren Quadratmetern, sie fluteten in Sturmwellen die Abhänge künstlicher Hügelchen empor, sprangen aus brennenden Häusern (schöne Modelle dieser Art wurden von Lissenbrech stets gesucht), oder sie attackierten zu Pferd in bunten Uniformen mit fliegender Attila. Keine Einzelheit fehlte. Bei Redfontein wurden rückwärts im Burenlager die Kühe gemolken, Wassereimer getragen und das Essen gekocht. All dem Gewimmel aber lag das genaueste geschichtliche, geographische und strategische Studium zugrunde, und bei einer solchen fertig aufgestellten Schlacht war immer eine bestimmte Stunde des denkwürdigen Tags gemeint und die in ihr sich darbietende Lage des Gefechtes. Lissenbrech besaß, laut genau geführtem Verzeichnis, zweiundsechzigtausendfünfhundert Zinnsoldaten.
Er war nicht kriegerisch. Er hatte dem Vaterlande brav gedient, gehörte jedoch keineswegs zu jenen Leuten, die Bedeutenderes als die Jahre des Krieges nicht erlebt haben, so daß diese im eigenen Wertgefühl einen Knoten oder eine Art Geschwulst bilden, die nie mehr ins übrige wirkliche Leben aufgelöst werden kann, sondern konserviert bleibt und nur gelegentlich mit der immer gleichen Überfülle der immer gleichen Geschichten aufbricht, besonders gern der nachdrängenden Jugend gegenüber, die hier zwar respektvoll zurückweichen muß, ohne allerdings was dafür zu können, daß sie nicht dabei gewesen ist. Nein, zu diesen Erzählern gehörte unser guter Baurat Lissenbrech nicht, und daß er sozusagen Schlachtenlenker geworden, wäre auf solch einfache Weise nicht zu erklären gewesen. Man verstand diese Tatsache zunächst überhaupt nicht, wenn man ihn kennenlernte, das heißt, es war schwierig oder unmöglich, zwischen ihr und ihm eine Verbindung herzustellen.
Sie blitzte jedoch mitunter auf, wenn er, am ausgedehnten Tische stehend, seine Heersäulen überschaute. Sie blitzte mit einem hellen, ja weißen Schein im blauen Auge, das zur durchsichtigen Kugel ward und jetzt wie ein bedrohlicher Fremd – und Sprengkörper über Gesicht, Person und das so behäbige Heim ein fahles Wetterleuchten warf. Dann wußte man, daß dieser gutmütige, wenn auch etwas reizbare Mann nicht nur des Ärgers fähig war, sondern des Zornes, eines tiefen, unheilbaren, nach innen gekehrten, nach innen abstürzenden Zornes.
Vielleicht marschierten dieserhalb die Regimenter, wer konnte es schon wissen. Herr von Hohenlocher, für sein Teil, verdankte dem Baurat ein Erlebnis, von dem er oftmals und viel später noch zu sagen pflegte, daß es zu seinen unverlierbaren gehöre, zu jenen, die er aus seinem Leben nicht mehr wegzudenken fähig sei, ja ohne welche er »dieses Leben nicht als gelebt erachten könne« (letzteres so wörtlich).
Vierzehn Tage nämlich vor jenem herbstsonnigen Nachmittage, da Conrad Castiletz dem Fräulein Marianne Veik vorgestellt worden war und dann gegen Peter Duracher angestrengt gespielt hatte, war es wieder einmal bei Frau Erika von Spresse zu einer schöngeistigen
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