Ein Mord von bessrer Qualität: Ein Fall für Lizzie Martin und Benjamin Ross (German Edition)
die nackten braunen Zweige zu sehen waren, an denen vereinzelt noch gelbe Blätter hingen. Die Dicke der Ranken ließ vermuten, dass die Gehölze schon beim Bau des Hauses angepflanzt worden waren. Im Frühling bot es wahrscheinlich einen wunderschönen Anblick mit den zahlreichen blauen und weißen Blütentrauben. Wahrscheinlich hatte es von Anfang an seinen Namen getragen, noch bevor die Torpfosten errichtet worden waren, denn der Name Wisteria Lodge war in den Stein gemeißelt.
»Sie ist vielleicht noch nicht bereit, Besucher zu empfangen, Missus«, warnte mich Bessie. »Mrs. Parry hat niemals vor zwölf Uhr mittags Besuch empfangen. Mrs. Scott ist vielleicht noch nicht angezogen und hat wahrscheinlich auch noch kein Frühstück gehabt.«
Beinahe hätte ich erwidert, dass meine Tante Parry niemals vor Mittag aufgestanden war, geschweige denn angezogen, und selbst ihr Frühstück um elf im Bett eingenommen hatte. Es geschah höchst selten, dass sie sich vor halb eins unten blicken ließ, auch wenn sie jedes Mal rechtzeitig für die mächtige Mahlzeit um ein Uhr auftauchte, die sie ein »leichtes Mittagessen« zu nennen pflegte. Doch das durfte ich Bessie nicht erzählen. Ich war einigermaßen zuversichtlich, dass Mrs. Scott einen derartigen Zeitplan als Müßiggang bezeichnet hätte und dass wir sie zumindest angezogen antreffen würden, auch wenn sie keine Besucher erwartete.
»Ich weiß«, sagte ich stattdessen. »Aber ich hoffe doch, dass sie schon angesichts der frühen Stunde erkennt, dass mich nur eine sehr wichtige Neuigkeit hergeführt haben kann.«
»Vielleicht lässt sie uns durch eine Magd ausrichten, dass wir eine Nachricht hinterlassen sollen«, fuhr Bessie düster fort. Jetzt, da wir tatsächlich vor dem Haus von Mrs. Scott standen, war die Begeisterung für den Besuch, die sie am Vorabend empfunden hatte, in ein deutliches Zögern umgeschlagen, den Drachen in seinem eigenen Lager aufzusuchen.
»Nun komm schon!«, befahl ich, und wir marschierten forschen Schrittes durch das Tor, die kurze Auffahrt entlang und die drei Stufen zu einer breiten Veranda hinauf, wo wir die Glocke läuteten.
Nach ein paar Minuten des Wartens öffnete eine mürrisch dreinblickende, respektable Person in schwarzer Kleidung, die nur die Haushälterin sein konnte, und musterte uns mit gelinder Überraschung.
Ich war vorbereitet hergekommen. »Bitte bringen Sie der gnädigen Herrin meine Karte«, sagte ich anstelle einer Begrüßung und reichte ihr das kleine weiße Rechteck aus Karton. »Richten Sie ihr bitte aus, dass ich um Verzeihung bitte wegen der frühen Stunde, doch ich habe wichtige Neuigkeiten, von denen ich glaube, dass sie sie ohne Verzögerung hören sollte.«
Allein ihre Neugier würde, so hoffte ich, die Dame des Hauses bewegen, mich zu empfangen. Die Haushälterin las die Karte sorgfältig und bat uns dann, in der Eingangshalle zu warten.
Während wir allein waren, nutzten Bessie und ich die Gelegenheit, den Blick in die Runde schweifen zu lassen. Es gab zweifelsohne Gemälde im Überfluss, allesamt in dem Stil gehalten, wie Angelis es Ben erzählt hatte. Die meisten zeigten arabische Szenen, einige vielleicht auch indische. Ich fragte mich, ob es eines von diesen Gemälden war, das Angelis unter den neugierigen Augen von Mr. Pritchard angeliefert hatte. Eines, das gebracht worden war, um ein kostbareres, heimlich verkauftes Stück zu ersetzen. Andere orientalische Souvenirs belegten die Reisen des verstorbenen Majors und seiner Witwe. Auf dem Tisch in der Halle stand eine vielarmige Bronzefigur, gleich neben einer Box aus einem dunklen Holz mit eingelegtem Elfenbein zur Ablage ausgehender Briefe.
In der Halle selbst, eigentlich im ganzen Haus, war es sehr still. Das einzige Geräusch war das leise Ticken einer hohen Standuhr in einer Ecke. Ich fühlte mich unwohl, und das nicht nur, weil mein früher Besuch ohne Einladung ein gesellschaftlicher Fauxpas war, wie Bessie mir so treffend verdeutlicht hatte, sondern weil dieses Haus in gleich mehrerlei Hinsicht unbekanntes Territorium für mich darstellte. Ich war der Lady erst zweimal begegnet. Beide Treffen waren kurz gewesen, und keines davon war freundlich verlaufen. Abgesehen von dem, was Bessie mir über Mrs. Scott erzählt hatte – dass ihr verstorbener Mann Soldat gewesen war –, wusste ich so gut wie gar nichts von ihr. Ben hatte von Mr. Angelis erfahren, dass sie die furchtbare Belagerung von Lucknow überlebt hatte. Woraus ich eine
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