Ein Mord wird angekündigt
Schwester. »Sie werden Mrs Goe d ler ganz normal finden, sie wird lebhaft reden und dann – ganz plötzlich – zusammenfallen. Dann müssen Sie s o fort das Zimmer verlassen und mich rufen. Sie steht fast da u ernd unter Morphium und befindet sich meist in einer Art Dämmerzustand. Ich habe ihr vorhin ein starkes A n regungsmittel gegeben, aber sowie die Wirkung nachlässt, wird sie in ihren Dämmerzustand zurücksinken.«
»Ja, ich verstehe, Schwester. Könnten Sie mir nun bitte genau sagen, wie es um Mrs Goedler steht?«
»Sie wird es nicht mehr lange machen, es kann höch s tens noch ein paar Wochen dauern. Wenn ich Ihnen sage, dass sie eigentlich schon seit Jahren tot sein müsste, wird Ihnen das merkwürdig vorkommen, aber es stimmt. Dass Mrs Goedler überhaupt noch lebt, ist nur ihrer ungehe u ren Vitalität und ihrer Lebensfreude zuzuschreiben. O b wohl sie seit fünfzehn Jahren das Haus nicht mehr verla s sen kann, hat sie sich einen erstaunlichen Lebenswillen bewahrt.«
Und lächelnd fügte sie hinzu:
»Sie ist eine reizende Dame, das werden Sie sofort s e hen.«
Craddock wurde in ein Schlafzimmer geführt, in dem ein helles Kaminfeuer loderte. In einem großen Himme l bett lag eine alte Dame, die, obwohl sie nur etwa sieben oder acht Jahre älter war als Letitia Blacklock, durch ihre Gebrechlichkeit wesentlich älter erschien.
Ihr weißes Haar war sorgfältig frisiert, eine flockige, hellblaue Bettjacke lag um ihre Schultern, und ihr Gesicht hatte trotz der Schmerzenslinien, die es durchzogen, se i nen Reiz nicht völlig eingebüßt.
»Also, das ist ja interessant«, sagte sie, vergnügt l ä chelnd, »Besuch von der Polizei habe ich nicht oft erha l ten. Wie ich höre, wurde Letitia bei dem Anschlag gottlob nur leicht verletzt. Wie geht es ihr jetzt?«
»Sehr gut, Mrs Goedler, sie lässt Sie herzlich grüßen.«
»Danke schön. Gott, wie lange habe ich sie nicht mehr gesehen … seit Jahren schon bekomme ich von ihr nur noch Weihnachtskarten. Als sie nach Charlottes Tod nach England zurückkehrte, hatte ich sie eingeladen, mich zu besuchen, aber sie lehnte es ab, da sie das Wi e dersehen als zu schmerzlich empfand; vielleicht hat sie Recht … «
Craddock ließ sie gern eine Weile reden, bevor er seine Fragen stellte. Er wollte ja so viel wie möglich von der Vergangenheit erfahren, einen Eindruck von Goedlers Kreis gewinnen.
»Ich vermute«, sagte Belle, »dass Sie mich wegen des Testamentes befragen wollen. Randall hat verfügt, dass nach meinem Tod Blackie sein ganzes Vermögen erben soll. Er hat natürlich nie im Traum daran gedacht, dass ich ihn überleben würde. Er war so ein kräftiger, großer Mann, war nie einen Tag in seinem Leben krank gewesen, während ich immer ein Häufchen Elend war, voller Kl a gen und Schmerzen und Leiden; dauernd kamen Ärzte, die bei meinem Anblick lange Gesichter zogen.«
»Warum hat wohl Mr Goedler das Testament in dieser Form abgefasst?«
»Sie meinen, warum er Blackie das Geld vermacht hat? Nicht aus dem Grund, den Sie wahrscheinlich vermuten.«
Verschmitzt zwinkerte sie ihm zu.
»Was für eine Fantasie ihr Polizisten habt. Randall hätte nie daran gedacht, sich in sie zu verlieben, und sie auch nicht in ihn. Wissen Sie, Letitia hat den Verstand eines Mannes. Sie hat keinerlei frauliche Schwächen und G e fühle. Ich glaube, sie war nicht ein einziges Mal in ihrem Leben verliebt. Sie war nicht hübsch, und sie machte sich nichts aus Kleidern.«
Mit einem mitleidigen Unterton fügte sie hinzu:
»Sie hat nie erfasst, was für ein Vergnügen es ist, eine Frau zu sein.«
Craddock betrachtete die zarte kleine Gestalt in dem großen Bett und dachte, dass sie, Belle Goedler, es b e stimmt genossen hatte – es auch jetzt noch immer genoss –, eine Frau zu sein.
»Ich habe stets gefunden, dass es entsetzlich fade sein muss, ein Mannsbild zu sein«, erklärte sie, wieder ve r gnügt zwinkernd, und fuhr dann nachdenklich fort: »Ich glaube, Randall betrachtete Blackie als eine Art ältere Schwester. Er verließ sich auf ihr Urteil und hatte Recht damit. Wissen Sie, sie hat ihn mehr als einmal von zwe i felhaften Sachen abgehalten und damit vor großen Schwierigkeiten bewahrt.«
»Sie erzählte mir, dass sie ihm einmal mit einer größeren Summe ausgeholfen habe.«
»Ja, das stimmt, sie ist grundanständig und so vernün f tig, ich habe sie immer bewundert. Die zwei Schwestern hatten eine schreckliche Kindheit. Der Vater war ein alter Landarzt,
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