Ein Mund voll Glück
aus, wie sich Architekten im Jahre 1910 ein hochherrschaftliches Haus vorgestellt hatten. Die Türschilder waren aus blankpoliertem Messing, aber selbst bei der Gräfin Ravensperch, die unten rechts wohnte und wahrscheinlich zu den Ureinwohnern gehörte, hatten drei Untermieter ihre Visitenkarten mit Reißnägeln unter dem Türschild befestigt. Das Vermögen derer von Ravensperch schien zwei Kriege leider nicht so gut wie das Haus überstanden zu haben. Unter dem Schild mit den Namen Faber im zweiten Stockwerk klebten sogar fünf Kärtchen.
Der Doktor drückte auf den Klingelknopf und wartete.
»Mein Gott, Sie, Herr Doktor!« rief Fräulein Faber, nachdem sie die Tür so weit geöffnet hatte, wie es die Sicherheitskette zuließ. Sie schaute an sich herunter und stellte mit Schrecken fest, daß ihre ganze Kleidung aus einer Wickelschürze bestand. »Sie müssen sich einen Augenblick gedulden, ich bin sofort wieder da!« Sie stürzte davon, und der Doktor wartete. Der Augenblick dauerte fünf Minuten. Dann fiel die Sicherheitskette herab. Fräulein Faber hatte es in der kurzen Zeit geschafft, ein Kleid überzustreifen und ihr Haar zu ordnen.
»Und wie Sie aussehen! Tropfnaß wie eine getaufte Maus...«
»Wie ein getaufter Mäuserich, bitte«, sagte er und ließ sich den triefenden Schirm abnehmen, den Fräulein Faber in einem zum Schirmständer umfunktionierten alten Butterfaß unterbrachte. Sie nahm ihm auch den klatschnassen Mantel ab und hängte ihn in einer Flurnische, in der die Kleiderablage untergebracht war, auf einen Bügel. Sie war nervös geschäftig und überspielte mit dieser Geschäftigkeit fraglos die Verlegenheit, in die sie der unerwartete Besuch versetzte.
»Was führt Sie her, Herr Doktor?«
»Wie sind Sie mit der Sintflut fertiggeworden, Fräulein Faber?« fragte er besorgt.
»Es wäre halb so schlimm gewesen, wenn der Sturm das Wasser nicht direkt ins Zimmer hineingedrückt hätte. Zum Glück gehört es Herrn Wisbeck, der nur übers Wochenende heimkommt. Der Glaser hat mir fest versprochen, die Scheiben noch heute zu ersetzen. Es hat hier eine Menge Glasschäden gegeben...«
Sie sah ihn fragend an, denn die Antwort auf die Frage nach dem Grund seines unerwarteten Erscheinens war er ihr schuldig geblieben.
»In der Praxis war nichts los. Kein Wunder bei dem Wetter. Ich habe den Laden für heute nachmittag dicht gemacht. Und dann dachte ich mir, ich müßte doch einmal nachschauen, wie es Ihnen geht...«
»Kommen Sie«, sagte sie, »ich kann Sie nur in die Küche führen. Sie wissen, daß ich mit meiner Schwester ziemlich beengt wohne. Ich werde uns einen Tee auf setzen, er wird Ihnen guttun. Sie holen sich womöglich noch einen Schnupfen.«
»Ich bin ziemlich wetterfest, aber eine Tasse Tee trinke ich gern.«
Er folgte ihr über den endlosen Korridor in eine Küche, die recht wohnlich und gemütlich eingerichtet war. Herd, Spülbecken und Kühlschrank konnte man hinter einem Vorhang verschwinden lassen. Das Mobiliar bestand aus einer Schlafcouch, einem runden Tisch, zwei Sesseln und einem Sekretär aus Nußbaumholz, auf dessen Schreibplatte eine kleine Reiseschreibmaschine stand. Ein Bogen war eingespannt und halb beschrieben. Zwei Bücherregale und einige Bilder gaben dem Raum die Farbtupfen. Der Doktor ließ sich in dem Sessel nieder, den ihm Fräulein Faber anbot. Sie setzte den Wasserkessel auf und stellte zwei chinesische Tassen, Zucker, Zitronenscheiben und eine kleine Rumkaraffe auf den Tisch.
»Machen Sie sich doch meinetwegen nicht so viele Umstände!«
»Umstände... Ich kann Ihnen nicht einmal einen Keks anbieten. Gestern abend war die Büchse noch voll, aber Marion hat sie ratzeputze leergefuttert. Dieses Mädchen stopft beim Lesen glatt ein Kilo Erdnüsse in sich hinein...«
Er wollte etwas sagen, aber ein Kitzel in der Nase zwang ihn, nach Luft zu schnappen und zu niesen.
»So wetterfest, wie Sie meinen, scheinen Sie nicht zu sein«, sagte Fräulein Faber, die jedes Niesen von ihm mit einem höflichen »G’sundheit!« begleitet hatte. »Kein Wunder, Sie stehen ja schon wieder in einem See...«
Tatsächlich hatte sich zu seinen Füßen auf dem Linoleum wieder eine kleine Pfütze gebildet, die Fräulein Faber mit einem Scheuerlappen auf nahm: »So, Herr Doktor«, sagte sie resolut, »jetzt ziehen Sie Schuhe und Strümpfe aus, sonst ist der Schnupfen wirklich fällig. Ich bringe Ihnen die Pantoffeln von Herrn Wisbeck, die Ihnen ganz gewiß passen werden.«
Er
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