Ein nackter Arsch
gekommen sind.“ Ihr Gesicht verriet, dass sie diesen Satz genau so meinte, wie sie ihn gesagt hatte. Simarek suchte nach passenden Worten, aber Erna Mollet machte es ihm leicht, indem sie weitersprach.
„Ich habe noch oft an Ihre beiden Besuche bei uns denken müssen. Es ist bestimmt nicht leicht, solche Nachrichten zu überbringen und sich dann auch noch mit den privaten Dingen fremder Menschen beschäftigen zu müssen.“
„Das ist meine Arbeit, und ich habe mich daran gewöhnt. Sie wirken sehr gefasst, Frau Mollet.“
„Ja. Der Gang zum Grab hat geholfen. Auf dem Weg von der Trauerhalle bis hierhin hat man ja ein paar Minuten zum Nachdenken. Und da habe ich mir noch mal klargemacht, dass dieser Abschied jetzt endgültig ist. Aber verabschiedet hat sich Gesine ja schon länger von uns.“ Sie kramte in ihrer Tasche und zog das Foto der Puppe heraus, das sie Simarek schon bei seinem letztem Besuch in der Moltkestraße gezeigt hatte.
„Es ist schon merkwürdig, dass meine Tochter am liebsten mit einer Puppe gesprochen hat.“
„Ich denke, sie hat schon gewusst, dass sie mit Frau Richter spricht“, sagte der Kommissar. „Manchmal führen ja auch Umwege zum Ziel, und die Puppe war so ein Umweg, um Frau Richter zu erreichen.“ Er wusste nicht, warum er die Methoden der Psychotherapeutin verteidigte. Aber er spürte, dass Erna Mollet immer noch darunter litt, letztendlich keinen Zugang zu ihrer Tochter gefunden zu haben.
„Ich glaube, auch Sie haben sich sehr um Gesine bemüht“, sagte der Kommissar sanft. „Manchmal findet man eben keinen Zugang zu einem Menschen, selbst wenn er einem sehr nahesteht. Sie täten Recht daran, sich nicht selbst mit Vorwürfen zu quälen.“
„Finden Sie?“ Erna Mollet machte den Eindruck, als sei sie selbst nicht ganz sicher. Ihr Kopf hatte begriffen, dass sie wirklich viel versucht hatte, aber im Bauch war immer noch der letzte Rest eines Gefühls. Da war diese letzte unbeantwortete Frage, ob es nicht doch einen anderen Weg gegeben hätte.
„Ja, das finde ich“, sagte Simarek und er meinte es ehrlich.
„Eigentlich wollte ich Gesine das Foto ja mit ins Grab geben. Aber jetzt bekommt Lisette doch einen Rahmen bei mir auf der Kommode.“
Dem Kommissar stockte der Atem. Dennoch bemühte er sich um Fassung. „Die Puppe heißt Lisette?“
„Ja, jedenfalls hat mir Gesine das erzählt. Die Psychologin hat sie von ihrem Vater bekommen, als sie ganz klein war.“
Simarek drückte Erna Mollet die Hand. Was jetzt in seinem Kopf vorging, konnte er unmöglich mit der trauernden Mutter teilen. Er bemühte sich um ein paar abschließende warme Worte, und Erna Mollet packte das Foto mit der Puppe wieder in ihre Handtasche. Dann ging sie zu ihrem Mann zurück, der noch bei der Pfarrerin stand.
Simarek schaute sich um. Wo war Simone Richter? Er hätte jetzt doch ein paar Fragen gehabt. Aber die Psychotherapeutin war nirgendwo zu sehen. Im Kopf des Kommissars arbeitete es rasend schnell. Lisette war ein seltener Name. Dass die Puppe so hieß wie Schmidtbauers Ehefrau, war kaum ein Zufall. Dass die Puppe mehr als dreißig Jahre alt war, passte auch. Aber was hatte Simone Richters Vater mit der Sache zu tun, sie suchten doch einen Jacques Desgranges? Und allenfalls noch einen Peter Conrad. Der Name Richter war in diesem Zusammenhang noch nie gefallen. Und plötzlich sah Simarek klar. Er wusste, was er übersehen hatte…
Das kleine Hospiz in Bitche lag am Fuße des Berges. Oberhalb erhob sich mächtig die Zitadelle, die zugleich Wahrzeichen der kleinen Stadt war. Das Gebäude war schlicht und funktionell. Von außen betrachtet ließ nichts auf erhöhten Komfort schließen. Der kleine grüne Streifen rechts und links des Weges zur gläsernen Eingangstür sah nicht sehr einladend aus. Aber Patienten, die das Hospiz als letzte Station ihres Lebens wählten, hatten entweder noch genug Kraft, um in der näheren Umgebung die Natur zu genießen oder waren bereits so schwach, dass sie ihre Zimmer kaum noch verließen.
Als Simarek allerdings den Eingangsbereich durchschritten hatte, änderte sich sein Eindruck. Innen war das Gebäude freundlich und hell. Bilder in lebendigen Farben schmückten die Wände. Der Eingangsbereich atmete Leben. „Merkwürdig“, dachte Simarek. „Hier riecht es gar nicht nach Tod.“
„Sieht ziemlich lebendig aus hier, oder?“ Simone Richter kam aus einem Seitengang auf den Kommissar zu. „Ich habe auf Sie gewartet.“
„Ich habe erwartet, dass Sie
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