Ein nackter Arsch
mich erwarten. Sie sind schließlich Psychologin und hatten einen gewissen Informationsvorsprung.“
„Ja, aber um ehrlich zu sein, ich weiß es auch erst seit Ihrem letzten Besuch.“
„Weil ich von Schmidtbauers Ehefrau gesprochen habe und der Name Lisette fiel? Da haben Sie dann die losen Enden zusammengebunden.“
„Das war logisch. Und als ich dann sah, dass Gesines Mutter Ihnen das Foto zeigte, und hörte, dass sie Ihnen den Namen der Puppe verriet, da wusste ich natürlich, dass Sie kommen würden. Wie gesagt, alles logisch. Aber trotz aller Logik bleiben Menschen doch oft ein Rätsel.“
„Man durchschaut sie nicht?“
„Oh nein, so einfach ist das nicht. Sehen Sie, ich kann vieles fachlich einschätzen, Diagnosen stellen, Therapien einsetzen und das alles verstehen. Verstehen eben mit dem Verstand. Und trotzdem fühlt es sich manchmal anders an. Ich kenne meinen Vater mein ganzes Leben lang, ich liebe ihn, und doch…“ Sie stockte, so als ringe sie nach den richtigen Worten. Simarek spürte, dass sie diese selbst finden wollte und schwieg geduldig.
„Ich glaube, letztendlich können wir nicht in die Seele eines Menschen schauen. Auch wenn wir ihn noch so gut kennen. Mein Vater ist ein guter Vater, er hat mir Liebe gegeben, er war immer da. Und nun soll er einen Menschen getötet haben. Das geht mir nicht in den Kopf. Ich habe nichts gespürt, was auf einen dunklen Fleck hingewiesen hätte.“
„Und, haben Sie jetzt eine Antwort?“
„Ich habe noch nicht mit ihm darüber gesprochen. Ich wollte auf Sie warten. Ich habe selbst ein wenig gebraucht, um meine Gefühle wieder zu ordnen. Das kann ich ganz gut, obwohl es mich natürlich drängt, ihn zu fragen: ‚Warum?‘“
„Die ganze Geschichte kann uns hoffentlich Ihr Vater erzählen. Kann er?“
„Ja, er wird zwar immer schwächer, aber er hat noch Kraft.“ Simone Richters Augen glänzten feucht, signalisierten aber auch eine Offenheit, die Simarek faszinierte. Doch noch mehr drängte es ihn, die Geschichte von Jacques Desgranges zu hören, der die nackte Leiche von Alfons Schmidtbauer sorgfältig drapiert der Lächerlichkeit preisgegeben hatte. Gut, Schmidtbauer hatte Desgranges die Freundin ausgespannt, aber das war vor vierzig Jahren gewesen. Warum jetzt, so viele Jahre später? Und warum so?
Simone griff nach dem Arm des Kommissars.
„Wir müssen hier lang.“
Gemeinsam folgten Kommissar und Psychotherapeutin dem Korridor, der ebenfalls mit Farben des Lebens geschmückt war. Sie schwiegen, bis sie vor der Tür zum Zimmer von Jacques Desgranges standen.
„Darf ich mit rein?“
„Ja“, sagte der Kommissar und drückte entschlossen die Türklinke herunter.
Jacques Desgranges saß in einem großen roten Ohrensessel, bekleidet mit einem leichten Jogginganzug. Es war offensichtlich, dass er einmal ein kräftiger Mann gewesen war. Würde strahlte er aus. Er wirkte nicht wie jemand, der mit dem Schicksal haderte. Da saß ein Mann, der dem Tod mit offenem Visier entgegentrat.
Simone Richter küsste ihren Vater auf die Wange und stellte vor: „Papa, das ist Kommissar Simarek.“
„Ah, Sie kommen wegen Schmidtbauer.“
Die entwaffnende Offenheit von Desgranges überraschte den Kommissar nicht einmal. Er setzte sich auf den einzigen weiteren freien Sessel und fragte nur: „Was ist passiert?“
„Ich hab ihn umgebracht. Vierzig Jahre zu spät. Aber immerhin. Ich wollte nicht gehen, ohne ihn. Und als meine Diagnose klar war und die Prognose auch, da wusste ich, ich muss handeln, bevor ich zu schwach bin. Wie sagt man? Ich musste die alte Rechnung begleichen.“
„Sie haben ihn gehasst?“
„Mein ganzes Leben, jedenfalls seit vierzig Jahren. Nun ja, ich hatte vieles…“ Er stockte. „Nein, nicht vergessen, wie sagt ihr Psychotherapeuten, Simone? Verdrängt. Ja, das ist das Wort. Ich habe aus meinem Leben ausgeblendet, was damals passiert ist. So gut es ging, habe ich die Erinnerungen aus meinem Leben ferngehalten, auch wenn sie immer mal wieder hochkamen, aber das war nicht so oft.“
„Er hat Ihnen Lisette genommen…“
„Das wäre zu einfach. Dafür hätte ich ihn nicht hassen müssen. So wichtig war Lisette nicht. Ich hatte ja dann schnell eine andere Freundin, Simones Mutter. Aber…“ Jacques Desgranges kratzte sich am Kinn.
„Er muss sich sammeln und braucht eine Pause“, dachte der Kommissar und schwieg.
„Ich wollte nie darüber sprechen. Ich könnte auch jetzt schweigen. Aber ich sterbe, vermutlich nicht
Weitere Kostenlose Bücher