Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
nicht wenige im Laufe ihrer Pilgerschaft wieder Vertrauen zu sich und ihrem Leben schöpfen konnten. Vertrauen in ihren Weg, Vertrauen zu Gott, Vertrauen in ihre Handlungen, im Umgang mit sich selbst, ihren Mitmenschen und der Welt. Je mehr Vertrauen sie entwickelt hatten, desto mehr Angst schwand aus ihnen. Deshalb ist Loslassen so bedeutend, glaubte ich. Kontrollverhalten ist das Gegenteil von Loslassen. Wer kontrollieren will, hat Angst die Kontrolle zu verlieren. Etwas kontrollieren zu wollen, bedeutet kein Vertrauen zu haben. Wir müssen und können nichts, absolut nichts kontrollieren. Erwartungen führen oft zu Enttäuschungen. Hier ist der Pilgerweg ein wertvoller Lehrer und Berater. Auch wenn die Dusche dem Wanderer kein warmes Wasser bietet, das Essen nicht wie in einem First-class-Restaurant beschaffen ist oder die Matratze mehr einer Hängematte gleicht... alles nicht so schlimm. Es zeigt auf, wie privilegiert wir mittlerweile leben. Und was für einen Komfort wir in unseren vier Wänden haben.
In meiner Kindheit kam lediglich sonntags Fleisch auf den Tisch. Der Braten roch nach Sonntag. Wochentags konnten wir uns kein Fleisch leisten. Wir besaßen vier Stühle, einen Tisch und einen Ofen und schliefen in Etagenbetten mit meinen Eltern in einem Zimmer. Einen Kühlschrank besaßen wir nicht. Die Treppe zum Speicher als kühlster Ort in unserer kleinen Zweizimmer-Wohnung nahm dessen Funktion ein. An Fernsehen war gar nicht zu denken.
Die Ansprüche vieler wachsen oder befinden sich schon in unwirklichen Dimensionen. Die meisten Menschen im »goldenen Westen« besitzen alles, um ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen. Sie haben ein Dach über ihrem Kopf, satt zu essen, eine Waschmaschine und eine Heizung in ihrer Wohnung, die ihnen Wärme spendet. Und wenn sie den Hahn aufdrehen, fließt klares sauberes Wasser, das sogar trinkbar ist. Wasser, ein Schatz, der für Millionen von Menschen einen unvorstellbaren Reichtum bedeutet.
El Acebo wirkte wie ausgestorben. Ich verließ den Ort über einen kleinen Pfad, der rechter Hand abwärts führte. Knorrige, Jahrhunderte alte Kastanien verzauberten die Umgebung und erzählten von längst vergangenen Zeiten. Ich ging bewusst langsam. Nach acht Kilometern wanderte ich über die Römerbrücke in den malerischen Ort Molinaseca, der sich am Flusse Meruelo befindet. Es wurde wärmer, ich sang: »So ein Tag, so wunderschön wie heute. So ein Tag, der dürfte nie vergehen.« Nie vergehen?, dachte ich. Doch! Der Tag durfte vergehen. Er musste sogar vergehen, um einem neuen Tag Platz zu machen. Wir können nichts festhalten, keine Tage, keine Menschen, keine Gefühle, keine Gedanken - nichts, aber auch gar nichts können wir fest-halten.
Ich erfreute mich an den zahlreichen Störchen in ihren Nestern auf den Hochspannungsmasten und Glockentürmen der alten Kirchen. Mittags befand ich mich am Ortsanfang von Ponferrada und hatte keine großen Gelüste weiterzugehen. Bis Santiago waren es nur noch 200 Kilometer. Die faszinierende Templerburg wirkte auf mich wie ein Märchenschloss. Zwischen dem 12. und 13. Jh. wurde sie von den Templern erbaut. Die Burg sollte den Weg der Pilger über die Brücke des Flusses Sil sichern. Ich war beeindruckt.
Um den Templerorden ranken sich zahlreiche Mythen und Legenden. Er wurde im Jahre 1118 von Kreuzrittern in Jerusalem gegründet. Die Templer waren Mönche und Ritter zugleich, die innerhalb einiger Jahrzehnte das Finanz- und Transportwesen der christlichen Welt kontrollierten. Sie hatten sich zur Aufgabe gemacht, heilige Stätten und die Pilgerwege zu schützen. Weil sie zudem auch noch das Geld reicher Pilger verwalteten und so an Macht und Reichtum Zunahmen, wurden sie irgendwann dem französischen König Philipp IV zu mächtig. Letztendlich sagte man den Templern geheimnisvolle Rituale nach, die sie angeblich vollzogen. Von ihren Gegnern wurden sie des Satanskults und der Hexerei bezichtigt. Was nie nachgewiesen werden konnte.
Über die Calle Gil y Carrasco erreichte ich den Hautplatz Plaza Virgen de la Encina. An einer Telefonzelle traf ich einen Pilger, den ich nach der Herberge fragte. Er erklärte mir den Weg und sagte, dass sie erst gegen drei ihre Tore öffnen würde. Ich war hungrig. Auf der Suche nach einem Restaurant lief mir die englische Lehrerin über den Weg. Weil sie die gleiche Absicht wie ich verfolgte, fanden wir uns wenig später vor einem Hotel-Restaurant an einem schönen schattigen Tisch
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