Ein Ort für die Ewigkeit
elementaren Wunsch zu erfüllen: den Mann, dem sie die Rolle des Bösewichts zugedacht hatten, auf der Anklagebank zu sehen. Sie brauchten eine gewisse zeremonielle Feierlichkeit, um dieses Bedürfnis zu stillen, aber dort, in einem modernen Gerichtssaal, der eher wie die Aula einer Schule wirkte als das Old Bailey in Film und Fernsehen, gab es nichts, was diesem Bedürfnis Rechnung tragen konnte.
Alle Varianten der Scardale-typischen Gesichtszüge waren bei den sieben Männern und acht Frauen, die gekommen waren, vertreten – von Ma Lomas’ gebogener Nase bis zu Brian Carters flächigem Gesicht. Bemerkenswert war, daß eine Person abwesend war: Ruth Carter selbst.
Die Presse war natürlich vertreten, wenn auch nicht so zahlreich, wie bei der Überstellung ans Gericht und der Verhandlung zu erwarten gewesen wäre. Man durfte in diesem Stadium so wenig berichten, daß es sich kaum lohnte, zu kommen. Um den Regeln der Unschuldsvermutung zu entsprechen, mußten die Redakteure jetzt, wo Hawkin etwas zur Last gelegt worden war, vorsichtig sein. Jede Andeutung, daß gegen ihn eine spätere Mordanklage erfolgen könne, war tabu.
Der Gefangene wurde in den Saal geführt, wo zwei Männer und eine Frau, die Friedensrichter, auf der Richterbank saßen. Alfie Naden wartete schon und war bereit. Ebenso der Inspector von der Polizei, der den Fall dem Gericht vorlegte. Hawkin schien sich wohler zu fühlen als sie alle, sein frisch rasiertes Gesicht war das Abbild reiner Unschuld, sein schwarzes Haar glänzte im Schein der Lampen. Ein leises Murmeln aus den Zuschauerreihen wurde durch ein scharfes Wort des Gerichtsdieners beendet.
Der Protokollführer stand auf und faßte die Vorwürfe gegen Hawkin zusammen. Bevor er noch zu Ende gesprochen hatte, war Naden schon aufgestanden. »Euer Ehren, ich habe dem Gericht eine Vorlage zu machen. Wie Euer Ehren bekannt ist, ist es die Pflicht des Gerichts nach Absatz neununddreißig des Gesetzes zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, die Identität Minderjähriger zu schützen, die Opfer von unzüchtigen strafbaren Handlungen wurden. Dies vor Augen, ist es üblich, daß das Gericht den Vertretern der Presse die Nennung des Namens des Angeklagten untersagt, da er indirekt die Möglichkeit bieten würde, das Opfer zu identifizieren, wenn eine familiäre Beziehung vorliegt, so wie es bei dieser Anschuldigung der Fall ist. Ich möchte deshalb Euer Ehren bitten, in diesem Fall eine solche Anordnung zu treffen.«
Als sich Naden setzte, erhob sich der Inspector wieder. Er hatte diese Möglichkeit schon mit George und Superintendent Martin besprochen. »Ich möchte einer solchen Eingabe widersprechen«, sagte er gewichtig. »Erstens wegen der Schwere der Umstände in diesem Fall. Wir glauben, daß dies nicht das erste Mal ist, daß der Angeklagte Kinder sexuell mißbraucht hat. Wenn sein Name veröffentlicht wird, kann dies dazu führen, daß sich andere Opfer bei uns melden.« Dieser Teil der Argumentation war kaum mehr als ein Versuchsballon; Craggs Bemühen, von den Kollegen in St. Albans etwas über Gerüchte zu erfahren, war ein eklatanter Mißerfolg gewesen. George wollte Clough zu einem zweiten Versuch dorthinschicken, aber im Moment hatten sie nichts weiter als Vermutungen.
»Zweitens«, fuhr der Inspector fort, »sieht die Anklage die Lage so, daß das Opfer des Überfalls nicht mehr am Leben ist und deshalb den Schutz des Gerichts nicht braucht.«
Den Leuten im Saal verschlug es den Atem. Von einer der Frauen aus Scardale war leises Stöhnen zu hören. Die Reporter sahen einander verblüfft an. Durften sie über diesen Ausspruch berichten, weil er in einer öffentlichen Sitzung des Gerichts gemacht worden war? Würde dies trotzdem als Mißachtung des Gerichts gelten? Würde es davon abhängen, wie die Entscheidung der Richter ausfiel?
Naden stand auf. »Euer Ehren«, protestierte er und war die Empörung selbst. »Dies ist eine skandalöse Behauptung. Es stimmt, daß das angebliche Opfer dieses angeblichen Überfalls zur Zeit von zu Hause verschwunden ist, aber der Hinweis der Polizei, daß das Mädchen tot sei, soll nur die Verunglimpfung meines Klienten in Gang setzen. Ich muß auf die Entscheidung drängen, daß Sie der Presse lediglich die Tatsache zu berichten erlauben, ein Mann sei der Straftat der Vergewaltigung verdächtigt worden.«
Die Richter steckten die Köpfe mit dem Protokollführer zusammen. George trommelte ungeduldig mit den Fingern auf sein Knie. Ehrlich
Weitere Kostenlose Bücher