Ein Ort für die Ewigkeit
wir nie einen Schimmer hatten, worüber die anderen redeten. Es war nicht so, als könnten wir nichts verstehen, weil uns einiges fremd war, sondern es war, als wären wir einfach stocktaub. Na ja, Sie werden sich daran erinnern, wenn Sie in Buxton in die Schule gegangen sind.«
Catherine nickte. »Ich war eine Klasse über Ihnen in High Peak. Soweit ich mich erinnere, waren es nicht nur die Kinder aus Scardale, über die sich alle lustig machten. Wir waren genauso schlimm gegenüber allen aus den umliegenden Dörfern.«
»Das kann ich mir vorstellen. Niemand ist grausamer als Kinder. Aber im Vergleich zu dem, wie es uns nach Alis Verschwinden ging, war es eigentlich das wenigste, daß man uns Schimpfnamen nachrief. Wenn ich an die Wochen zurückdenke, nachdem sie verschwunden war, ist meine lebhafteste Erinnerung, daß ich mit Derek in meinem Zimmer saß und an unserem riesigen alten Rundfunkgerät Radio Luxemburg hörte. Der Empfang war furchtbar, nur Rauschen und Zischen. Und eiskalt war es auch, das war, lange bevor die Zentralheizung nach Scardale kam. Wir saßen immer mit unseren Wintermänteln im Zimmer. Aber sogar jetzt noch gibt es Songs, die mich sofort in diese Zeit zurückversetzen.
Needles and Pins
von den Searchers, Cilla Blacks
Anyone Who Had a Heart
, Peter and Gordons
World without Love
und
I Wanna Hold Your Hand
von den Beatles. Immer wenn ich die höre, bin ich wieder in meinem Zimmer, sitze auf der rosa Frottierplüschdecke, Derek auf dem Boden, mit dem Rücken zur Tür und die Arme um die Knie geschlungen. Und keine Ali.
Als Kind nimmt man so vieles als selbstverständlich hin. Man verbringt den ganzen Tag mit jemandem und kommt nie darauf, daß er oder sie eines Tages nicht mehr dasein könnten. Einerseits, wissen Sie, denke ich, habe ich Glück, daß Sie dieses Buch schreiben. So viele von uns verlieren Menschen, und es ist gar nichts da, um zu beweisen, daß sie überhaupt existiert und nicht nur in unseren Köpfen gelebt haben. Wenigstens werde ich Ihr Buch in die Hand nehmen können und wissen, daß es Ali wirklich gegeben hat. Nicht lange genug, aber sie war hier.«
6
Mai 1998
G eorge Bennett blieb stehen, stützte die Arme in die Seiten und atmete tief die milde, feuchte Luft ein. Sein Sohn war schon ein paar Schritte weiter und genoß die imposante Aussicht von den Heights of Abraham über die tiefe Schlucht, die der Fluß Derwent gegraben hatte, zu den majestätischen Mauern des Riber Castle auf dem gegenüberliegenden Berg. Sie hatten die Seilbahn von Matlock Bath zum Gipfel genommen und gingen jetzt am bewaldeten Grat entlang auf einen gewundenen Weg zu, auf dem sie langsam wieder zum Fluß hinuntergehen wollten.
Paul konnte sich kaum erinnern, wie viele Wanderungen er mit seinem Vater im Lauf der Jahre gemacht hatte. Sobald er alt genug gewesen war, Schritt halten zu können, hatte George ihn zum Wandern in die Täler und auf die Berge von Derbyshire mitgenommen. Manche dieser Tage hatten sich ihm fest eingeprägt, wie zum Beispiel, als sie am Tag vor seinem siebzehnten Geburtstag den Mam Tor erstiegen. Andere waren spurlos in Vergessenheit geraten und kamen ihm nur ins Gedächtnis, wenn er sie mit Helen bei einem ihrer gelegentlichen Besuche wiedersah. Wenn er wie an diesem Wochenende allein nach Haus kam, ging er immer noch gern mit seinem Vater in die Berge, obwohl George jetzt Wege bevorzugte, die keine schweren Klettereien erforderten, so wie damals, als er noch jünger und kräftiger war.
Paul drehte sich zu seinem Vater um, der jetzt ruhiger atmete, obwohl sein Gesicht von der kurzen, aber steilen Strecke, die sie gerade hinter sich gebracht hatten, noch gerötet war. »Alles in Ordnung?« fragte er.
»Alles klar«, sagte George, richtete sich auf und trat neben Paul. »Ich bin nicht mehr so jung wie früher. Aber es lohnt sich wegen der Aussicht.«
»Das ist eines von den Dingen, die ich in Brüssel wirklich vermisse. Ich bin verwöhnt, weil ich mitten in einer so schönen Landschaft aufgewachsen bin. Wenn wir dort eine Wanderung auf einen anständigen Berg machen wollen, müssen wir vorher stundenlang fahren, also lassen wir es meistens lieber. Und sich in der Sporthalle Bewegung zu verschaffen ist kein Ersatz für das hier.« Er wies auf den Horizont.
»Wenigstens regnet es in der Halle nicht«, sagte George und zeigte auf die Wolken weiter unten im Tal. »Damit werden wir es in einer halben Stunde oder so zu tun bekommen.« Er ging weiter, und Paul schloß sich
Weitere Kostenlose Bücher