Ein Ort wie dieser
Saint-André.
Es lag in Céciles Natur, lange nachzudenken. Wenn die Baoulés sich nicht als Ivorer herausgestellt hätten, hätte sie vermutet, sie habe sich verhört. Aber die Frau hatte deutlich gesagt: »Die Baoulés, aus der Elfenbeinküste«. Durch längeres Kramen in ihrem Gedächtnis hatte Cécile sich an das ungleiche Paar erinnert. Die beiden waren kurz vor Schulanfang in die Schule gekommen und hatten sie sich angesehen. Sie waren keine Eltern eines Schülers. Aber sie interessierten sich für die Baoulés. Warum? Waren die Baoulés politische Flüchtlinge, die geschützt werden sollten? Oder bewacht?
Cécile stellte bekümmert fest, dass die kleinen Ivorer Zielscheibe von Vorurteilen waren. Vielleicht von verstecktem Rassismus. Man fand sie »unerträglich«, »ungezogen«, sie »senkten das Niveau«, die Schule war »nicht mehr, was sie mal war«. Cécile räumte ein: Die Baoulé-Jungs waren angeberisch und frech, die Mädchen tratschten viel und waren zickig. Aber sie waren fröhlich, gute Spielkameraden, und Alphonse und Démor waren sogar die Anführer im Pausenhof. Prudence und Pélagie, die ständig aneinanderklebten, waren gute Schülerinnen. Und die Älteren schützten die Jüngeren.
Georges Montoriol gelang die bemerkenswerte Leistung, nie einen Baoulé mit einem anderen zu verwechseln, nicht einmal die Zwillinge. Er hatte eine sehr eigene Art, sie anzureden: »Monsieur Felix, soll ich Ihnen helfen, auf die Mauer zu klettern?«
Der Junge, der schon auf halber Höhe war, ließ sich langsam zu Boden fallen.
»Ich trainiere, Monsieur.«
»Das ist sehr gut. Trainieren Sie bitte, indem Sie den Satz
Ich darf nicht auf die Mauer klettern
im Präsens und im Futur konjugieren.«
In der nächsten Pause und nach erfolgter Strafe neckte er den Schuldigen: »Kein Training heute, Monsieur Felix?«
Wenn er im Hof Aufsicht führte, hatte er oft ein oder zwei Baoulés auf den Fersen.
An diesem Tag saß Cécile in der Sonne auf einer Bank und beobachtete verstohlen ihren Direktor. Er hatte kurzes Haar, war frisch rasiert, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und lehnte sich an die Mauer, ohne sich darum zu kümmern, dass sein schöner Anzug schmutzig werden könnte. War er verheiratet, hatte er Kinder? Ein Mysterium. Aber er hatte seinen Platz in Céciles Herz gefunden. Sie glaubte, ihr Geheimnis dort gut vergraben zu haben. In Wahrheit wusste Georges, dass er beobachtet wurde, und war damit nicht unzufrieden.
»Monsieur Leon!«, rief er und löste sich von der Mauer. »Glauben Sie, ich hätte nichts gesehen? Was haben Sie in der Mädchentoilette gemacht?«
Leon rollte auf komische Weise wild mit den Augen, um den Clown zu spielen. Monsieur Montoriol schüttelte ihn an der Schulter: »Nicht mit mir. Am Ende der Pause kommst du in mein Büro. Dann sprechen wir uns aus. Unter Männern.«
Mit gesenktem Gesicht schlich Leon kläglich davon, gefolgt von Monsieur Montoriols amüsiertem Blick. Der Direktor ging zu der Bank, auf der Cécile so tat, als lese sie.
»Dieser Leon«, sagte er und setzte sich. »Er ist nicht der Einzige, der sich für Mädchen interessiert.«
Cécile erzitterte am ganzen Körper.
»Haben Sie zwei Minuten Zeit? Ich wollte Sie über die Sitten und Gebräuche unserer Schule informieren. An Weihnachten machen wir eine kleine Aufführung für die Eltern. Das machen wir auch ein bisschen deshalb, um denen von Saint-Charles ein Schnippchen zu schlagen. Die machen jedes Jahr eine lebende Krippe oder so was.«
In dem ironischen Ton eines alten Anhängers der nichtkirchlichen Schule fügte er hinzu: »Ich kann Sie beruhigen, ich werde nicht von Ihnen verlangen, die Heilige Jungfrau zu spielen … Melanie lässt gewöhnlich die zweite Klasse tanzen, und ich die vierte und fünfte singen.«
Monsieur Montoriol hatte ein ganzes Repertoire staatsbürgerlicher Chansons, die von
Es ist kein Glück, als Zigeunerin geboren zu sein
bis
Ich will das Glück für die ganze Erde
gingen.
»Und Sie, Cécile, was werden Sie mit Ihren Erstklässlern machen?«
Zum ersten Mal nannte er seine junge Kollegin beim Vornamen. Sie rutschte auf ihrer Bank zur Seite und riskierte, auf den Boden zu fallen.
»Ich … Ich weiß nicht. Sie sind klein.«
»Ich hatte gedacht, Sie könnten sich ein Theaterstück für sie ausdenken.«
»O nein, das kann ich nicht.«
Sie knetete die Hände. Am liebsten hätte sie geschrien:
Gehen Sie, lassen Sie mich in Ruhe!
»Ich bin fest vom Gegenteil überzeugt. Auf jeden
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