Ein Ort zum sterben
Familie sicherten.
In einer flüssigen, altmodischen Schrift machte eine der alten Damen sich Vorwürfe wegen der unsinnigen Fragen, die sie stellte, nur um das Gespräch in Gang zu halten, zu verhindern, daß die seltenen Besuche zu rasch endeten. Hin und wieder machte sich das Leiden an der Verständnislosigkeit der Umwelt, die Unfähigkeit, mit einer Generation zu kommunizieren, mit der sie nichts gemein hatte, in blinder Wut Luft. Da waren die Weinkrämpfe, das schreckliche Sichfallenlassen in die Erkenntnis, daß jedes Aufbäumen zwecklos war. Da war die Wut darüber, wie ein Kind behandelt zu werden – als habe man sich mit den Tränen aller Erfahrung des Alters begeben –, der Frust der Mißverständnisse, die daraus erwuchsen, daß die Jungen nur halb zuhörten und das Einfachste – zum Beispiel, daß arthritische Hände keine kindersicheren Verschlüsse öffnen können – nicht begreifen wollten. All diesen Frauen war gemeinsam, daß sie sich nach menschlicher Berührung sehnten.
Das war bei Samantha Siddon nicht anders gewesen. Er hatte die letzte Eintragung im Tagebuch des vierten Opfers aufgeschlagen, die genau ein Jahr zurücklag:
Die Umarmungen bei der Begrüßung und beim Abschied läßt sie über sich ergehen. Dabei muß sie das Gefühl haben, daß ich mich an sie klammere wie ans liebe Leben, und so ist. es ja auch. Sie ist das einzige warme Fleisch, das ich berühren, von dem ich mich berühren lassen darf. Ohne Berührung stirbt man. Wenn sie nun nie wiederkommt?
Er ließ das Licht brennen, als er in das Zimmer mit dem von Riker bei Mallory sichergestellten Material und den übrigen Asservaten ging. Es war ein Chaos aus Bildern blutiger Gemetzel in sattem Kodacolor und fliegenden Blättern, die irgendwie und irgendwo alle zusammengehörten. Zu viele Spuren, hatte Markowitz gesagt. Und jetzt auch zu viele Verdächtige – von denen zwei möglicherweise im Team arbeiteten. Bei Cathery, auf den das FBI-Profil so gut paßte, stimmte alles – bis auf das Motiv. Jonathan Gaynor, der Soziologieprofessor, hatte das meiste Geld geerbt. Margot Siddon war unter den Erben die Bedürftigste.
Markowitz und seine verdammten Geldmotive. Aber häufig hatte er ja recht gehabt, der Alte. Kein Zweifel, der Mörder war krankhaft veranlagt, aber verrückt war er nicht. Das hatte Markowitz gespürt. Warum hatte er nicht ihm, Coffey, eine faire Chance gegeben? Ein Wort, in den Staub geschrieben, irgendwas …
»Nein, hier nichts Neues. Schönen Dank für den Anruf, Riker. Ja, bis morgen.«
Nichts Neues? Immerhin lebte sie noch. War das nichts? Mallory legte auf, ging ins Arbeitszimmer und pinnte die Zettel an die Wand, auf denen sie ihre Beobachtungen über die Observierung Gaynors festgehalten hatte. Zwischen zwölf und zwei war also das vierte Opfer gestorben. Selbst bei besten U-Bahnverbindungen oder günstigsten, Straßenverhältnissen brauchte man für die Fahrt von Harlem zum Gramercy Square und zurück fast eine Stunde, auch wenn für den Mord selbst nur Minuten zu veranschlagen waren. So lange hatte sie ihn – von seiner Sprechstunde abgesehen – nie aus den Augen verloren. Sein Zimmer hatte nur eine Tür – die auf den Gang. War es denkbar, daß Gaynor ihr trotzdem entschlüpft war? Wie Mrs. Pickering sehr richtig bemerkt hatte, war Observierung offenbar nicht ihre Stärke. Sie hatte sich gewünscht, daß es Gaynor war. Es hätte so schön gepaßt.
Einmal hatte Markowitz sie dabei erwischt, wie sie an einem Puzzleteil herumgeschnipselt hatte, damit es in die Lücke paßte. »Mit Schummeln, Kathy«, hatte er gesagt – damals durfte er sie noch so nennen –, »kannst du es natürlich so hinkriegen, daß die Stücke zusammenpassen, aber dann ist das, was du siehst, nicht das richtige Bild. Das Leben läßt sich nicht betrügen, Kleines.«
Sie pinnte das Material über Gaynor und die Teleaufnahmen des schachspielenden Cathery seitlich an die Korkwand.
Ein neuer Hauptverdächtiger mußte her. Und ein neuer Ansatzpunkt. Sie sah in Markowitz’ Taschenkalender. Wenn er nun an jenem Dienstag nicht zu seinem BDA-Termin gegangen war? Seit Dienstagvormittag hatte ihn niemand mehr gesehen. Zu der Pokerrunde am Donnerstag davor war er auch nicht gekommen. Was hatte er an diesen Abenden gemacht?
Wenn Markowitz die Lösung gefunden hatte, dann mit Sicherheit aufgrund einer Spur aus dem ersten oder dem zweiten Mord. Oder hatte er den dritten erwartet? Er hatte etwas gesehen, was sie nicht erkennen
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