Ein Ort zum sterben
aneinanderstoßenden Dächern, überwand mit einem Sprung den Abstand, wenn die Häuser auf Lücke gebaut waren. Der Schatten war nicht so schnell wie sie, aber Zeit und Raum waren ihm günstig. Die Schöße seiner dunklen Jacke flatterten im Wind wie Fledermausflügel, und dann hob er ab und war verschwunden.
Alle Sinne sagten ihr, daß sie allein in der Dunkelheit stand. Leise ging sie weiter, suchte mit scharfem Blick Feuerleitern und Dachluken ab. Eine stand offen. Sie sah in das schwarze Treppenhaus hinunter, auf der Suche nach einer wenn auch noch so leichten Luftbewegung, einer Spur von Körperwärme, aber sie spürte nichts, hörte nichts – nur die Stille derer, die einem neuen Bürotag entgegenschliefen. Hier war der Schatten nicht untergetaucht. Sie ging noch ein Haus weiter, prüfte auch hier die Dachluke und die Feuerleiter.
Dann trat sie zurück und hob den Kopf. Vor ihr lag die Skyline von Lower Manhattan, das Panorama heller Fenster, hinter denen die Nachtmenschen hockten, die nie etwas gesehen hatten, wenn die Cops bei ihnen anklopften.
Jack Coffey saß allein in seinem Zimmer, das noch immer Markowitz’ Zimmer hieß. Die Sache mit Margot Siddon hatte ihn ziemlich mitgenommen. Dieses Gerede von Messern, dieses grimassenhafte Grinsen. Eins von diesen Punkergirls aus dem Village, hatte er gedacht, für die es ein Sport ist, Cops anzumachen. Ganz falsch.
Er sah auf die Akte hinunter, die Riker ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. Die von Markowitz unterschriebene Anforderung war angeheftet, sie war nach dem Gespräch in Catherys Wohnung herausgegangen. In dem zwei Jahre zurückliegenden Bericht über den Anschlag auf Margot Siddon war auch von dem Messerstich die Rede, den durchtrennten Gesichtsnerven. Und die Narbe war ja nicht zu übersehen. Er aber hatte für grinsende Dreistigkeit gehalten, was das Werk eines grausamen Messers und nicht Schuld des Opfers war.
Es war schon ein Elend mit all diesen Opfern …
Und was hatte er noch übersehen? Herrgott, was war er müde!
Riker hatte auch mit dem Beamten gesprochen, der damals den Fall bearbeitet hatte, und seine Notiz dem Vorgang beigelegt. Coffey nahm das Schulfoto eines hübschen, ganz normal lächelnden Mädchens in die Hand, aufgenommen kurz vor dem Tag, als dieser Verbrecher zu ihr gesagt hatte: »Schau, wie das Messer tanzt, meine Kleine.« Nach Aussage des Kollegen hatte Margot zusehen müssen, wie die Klinge in ihre Wange gefahren war, hatte – splitternackt und im Schock, nachdem er ihr Gewalt angetan hatte – das Blut fließen sehen.
Ein Elend mit all diesen Opfern …
Er machte das Deckenlicht aus. Eigentlich wollte er Schluß machen, aber er war so kaputt, daß er sich zu nichts mehr aufraffen konnte. Er knipste die Schreibtischlampe an, die die frisch getünchten, vom Markowitz-Chaos befreiten Wände in sanfteres Licht tauchten. Gleichsam durch die Hintertür aber hatte sich Markowitz doch wieder eingeschlichen. Akten lagen auf dem Fußboden und stapelten sich auf den beiden Stühlen, und auf der neuen, sauberen Schreibunterlage vor dem Computer lagen jede Menge Briefe und Tagebücher, die darauf warteten, ganz altmodisch-konventionell durchgearbeitet zu werden.
Es gab ihm zu denken, daß die Aufzeichnungen der alten Damen alle vor über einem Jahr endeten. Entweder war ihnen nichts Interessantes mehr eingefallen, oder an die Stelle des Briefe- und Tagebuchschreibens war eine fesselndere Betätigung getreten. Das ging ihm nach. In einem Fall waren alle Aufzeichnungen in einem alten Koffer auf dem Speicher gewesen und nicht in der Wohnung selbst. Dabei war bekannt, daß die Betreffende gewissenhaft Tagebuch geführt hatte. In den zehn ledergebundenen Bänden, die er gefunden hatte, war nicht ein einziger Tag ausgelassen.
Alle Opfer waren, ehe er Zugang zu ihren geheimsten Gedanken bekommen hatte, eindimensional für ihn gewesen. Von den Erben hatte er nichts Erhellendes über ihr Leben erfahren. Mit wem waren die Opfer befreundet gewesen, welche gemeinsamen Interessen hatten sie möglicherweise gehabt? Die Angehörigen konnten ihm dazu nichts sagen. Und von den Putzfrauen hörte er nur Banalitäten. Heute abend war er, um zu erfahren, wie diese Frauen wirklich waren, in ihre Gedankenwelt eingedrungen und hatte sich auch näher mit den Erben befaßt. Die große Angst aller Opfer war es gewesen, den Kontakt mit den ihnen verbliebenen Angehörigen zu verlieren, die ihnen als Brücke zur Welt galten, den Fortbestand der
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