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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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seiner Mitmenschen, die Mallorys Lächeln für bare Münze nahmen.
    »Die Schrift an der Wand, Martin …« Sie federte auf den Ballen und sah ihn erwartungsvoll an. Wenn sie ihn zu sehr bedrängte, verschwand er womöglich in irgendeiner autistischen Dimension und machte die Tür hinter sich zu. Also wartete sie.
    Und wartete.
    Nichts.
    Ja, richtig: Sie hatte keine konkrete Frage gestellt.
    »Können Sie mir sagen, was an der Wand geschrieben stand?«
    »Rot«, sagte Martin nach genau dreißig Sekunden.
    Jetzt lächelte sie nicht mehr.
    In den letzten vier Wochen hatte sie den Künstler hin und wieder auf der Straße und im Haus bei seinen seltenen Kontakten mit anderen Bewohnern dieses Planeten beobachten können. Die meisten Leute begriffen letzten Endes, daß er ein komischer Vogel, aber im Grunde harmlos war, aber meist dauerte das ein paar Minuten, und das machte sie nervös. »Roter Lippenstift, ich weiß. Aber die Worte, Martin …«
    Sie versuchte es erneut mit einem Lächeln, um ihn aus der Reserve zu locken. Schließlich konnte sie sich ja nicht den ganzen Tag mit diesem Unfug aufhalten.
    »Dicke Linien«, sagte Martin.
    Es kam ihr vor wie ein schlecht synchronisierter Film mit einer undurchschaubaren Handlung. Ich könnte ihn umbringen, aber ich darf es nicht, überlegte sie und mußte dabei an Helen Markowitz denken, die immer so strikt auf dem richtigen Gebrauch der Hilfsverben bestanden hatte.
    Vergeblich wartete sie auf mehr. Er stand da wie ein weißer Strich in der weißen Landschaft. Aber irgendwelche menschlichen Regungen mußte doch selbst einer wie er haben …
    »Was stand an der Wand, Martin? Wollen Sie es mir nicht sagen?« bat Mallory mit leiser, lockender Stimme und fing seinen Blick mit einem unsichtbaren seidenen Faden ein, den Martin entschlossen zerriß, indem er sich wieder zur Wand drehte und damit signalisierte, daß sein Vorrat an Worten aufgebraucht war.
    Mallory ballte die Fäuste hinter dem Rücken und konnte nur hoffen, daß ihre Stimme sie nicht verriet. »Ein hochinteressantes Haus, Martin, finden Sie nicht? Ich meine die Art, wie die Mieter den Kopf einziehen, wenn sie sich zufällig mal begegnen. Als wüßten sie, daß jeder seine eigene Leiche im Keller hat. Fast gespenstisch, nicht?«
    Er senkte den Kopf um zwei Zentimeter. Eine aufschlußreiche Bewegung, wenn man bedachte, wen man vor sich hatte. Sie setzte sich auf einen der weißen Klötze, starrte auf Martins Rücken, versuchte ihn mit all ihrer Willenskraft zu bewegen, sie anzusehen – und war nicht überrascht, als es klappte. Der Mann war hochsensibel.
    »Es gibt kaum Mieterbewegungen hier im Haus«, sagte sie sanft. »Eigentlich merkwürdig in einer Stadt wie New York, wo alles ständig im Fluß ist. Ich möchte wirklich wissen, warum sie alle hierbleiben. Sie selber haben schon vor zehn Jahren hier gewohnt, als George Farmer seinen Selbstmordversuch machte. Der nächste, der auszog, war der Mieter, der gegenüber von Charles wohnte. Packte eines Tages seine Sachen, verschwand ohne Nachsendeadresse und ließ seine Kaution mit Zinsen für fünfzehn Jahre einfach sausen. Wer macht denn so was?«
    Ihre Blicke prallten schmerzhaft aufeinander, aber Martin sah gleich wieder weg.
    Sie hob fragend beide Hände. »Sie glauben also, er hat die Zeichen an der Wand gesehen?«
    Martin drehte ihr erneut den Rücken zu und schüttelte den Kopf. Nicht als Zeichen der Verneinung, sondern so, als wolle er damit eine lästige Fliege verscheuchen.
    Sie war zu weit gegangen.
    Mallory stand auf und ging langsam zur Tür. Sie war schon fast draußen, als Martin sagte: »Wachet, denn ihr wisset nicht den Tag noch die Stunde.«
    Als Charles in sein Büro zurückkam, staunte er nicht schlecht, denn da stand am hellichten Tag Mallory in der Küche und garnierte gekonnt eine Sandwichplatte.
    »Hallo, Mallory.« Inzwischen versprach er sich nicht mehr. Sie hatte ihn gut erzogen. Außerdem sorgte sie bestens für seine Verpflegung und erleichterte ihm auch sonst das Leben auf vielerlei Art. Sogar Arthur, sein Steuerberater, sang Loblieder auf sie, weil er nun nicht mehr Plastiktüten voller Rechnungen nach Hause zu tragen brauchte, auf denen die Endsummen durch Kaffee- und Teeflecke unkenntlich gemacht worden waren.
    Und doch sagte ihm sein Gefühl, daß gerade jetzt eine neue Komplikation auf ihn zukam.
    »Ich habe mich lange mit Edith Candle unterhalten«, bemerkte sie betont beiläufig.
    Das hatte wohl früher oder später so kommen

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