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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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sich also Hoffnungen auf eine neue Karriere machen. Und Edith?«
    »War in spiritistischen Kreisen durchaus noch geschätzt, aber mit dieser einen Vorführung hatte Max sie wieder ins zweite Glied zurückgedrängt. Es war ein Riesenerfolg, der überall besprochen wurde – in New York gab es damals noch mehr Zeitungen als heute-, und alle Blätter nannten das Unternehmen todesmutig und überaus gefahrvoll.«
    »Gefahrvoll? In Wirklichkeit war es doch aber nur fauler Zauber, nicht?«
    »Nein, die neue Nummer war tatsächlich sehr risikoreich. Das Finale verlangte Max sein ganzes Können und sehr viel Konzentration ab. Als er bei uns im Haus war, gab er keine Interviews, ging nicht ans Telefon und ließ sich nichts ausrichten.«
    »Auch nicht von Edith?«
    »Besonders nicht von Edith.« Warum hatte er das gesagt?
    »Da müssen die beiden sich wohl ganz schön gekracht haben.«
    »Ein Illusionist muß sich hundertprozentig sammeln können, er darf sich durch nichts ablenken lassen.«
    »Durch Voraussagen über seinen Tod zum Beispiel?«
    Die Schrift an der Wand. Was hatte seine Mutter ihm darüber erzählt?
    »Ja, darum ging es wohl. Ein paar Tage vor der Premiere fand er einen mit rotem Lippenstift geschriebenen Satz an der Wand …«
    »Und wie lautete der?«
    »Das weiß ich nicht. Ich habe ja nur Bruchstücke aufgeschnappt, gesprochen hat nie jemand mit mir darüber. Bei ihren früheren Nummern hatten sie nie mit automatischem Schreiben gearbeitet.«
    »Mit automatischem Schreiben?«
    »Das sind Worte oder Sätze, die jemand unbewußt, in Trance, aufschreibt. Edith hat nie abgestritten, sie geschrieben zu haben, sie sagte nur, sie könne sich nicht an den Vorgang des Schreibens erinnern.«
    »Und hast du ihr das abgenommen? Auf welcher Seite warst du?«
    »Schwer zu sagen, wenn man erst neun ist … Sicher habe ich sie beide lieb gehabt.« Aber so stimmte das nicht. Liebe war es nur in einem Fall gewesen, allenfalls Zuneigung in dem anderen. »Mag sein, daß Max mir näher stand. Er war immer sehr beschäftigt, und trotzdem hat er sich die Zeit genommen, mit mir zu spielen. Ja, ich habe ihn wohl sehr geliebt.«
    Er nahm eine Olive von seinem Teller und schloß die Finger darum. Als er die Hand wieder öffnete, war die Olive weg. Er tat, als ob er sie aus seiner Augenhöhle zöge, und überreichte sie Mallory. Sie lachte. Lachte wie damals der kleine Charles über einen Zaubertrick ganz nach dem Herzen von Kindern, die Grusel und Gänsehaut genießen.
    »Max kam am zweiten Abend, an dem er seine neue Entfesselungsnummer im Wasserbecken vorführte, ums Leben. Als mir meine Eltern am nächsten Morgen von dem Unglück erzählten, wollte ich es nicht glauben. Es ist ein Trick, dachte ich. Edith zog sich danach völlig zurück, sie ist nicht einmal zur Beerdigung gegangen. Die Trauerfeier war in der Kathedrale von Manhattan. Zauberkünstler und Zauberkünstlerinnen aus aller Welt waren gekommen, die Männer mit weißem Zylinder und in weißem Frack und Cape, die Frauen in weißen Satinkleidern, auch der Blumenschmuck war weiß. Und als auf dem Friedhof der Sarg in die Grube gesenkt wurde, kamen unter den Capes der Zauberer tausend Tauben hervor, der Himmel war weiß von Taubenschwingen. Es war ein einmaliges Erlebnis.«
    »Edith muß sich sehr schlecht gefühlt haben, wenn sie nicht an der Beerdigung teilnehmen konnte.«
    »Das möchte ich annehmen.«
    »Du weißt es nicht?«
    »Meine Eltern brachten mich danach nie mehr zu ihr. Mutter sagte, wir dürften sie in ihrer Zurückgezogenheit nicht stören. Ich habe Edith erst nach der Beerdigung meiner Mutter wiedergesehen.«
    Die Kaffeemaschine spuckte.
    Edith Candle blickte auf die Wand, ohne etwas wahrzunehmen. Jenseits des verschlungenen Rosenmusters auf der Tapete stand die Erinnerung an die Zeit vor dem Tod eines Magiers. Die Entscheidungen oder Handlungen, die ein Leben in andere Bahnen lenken, ein persönliches Schicksal verändern, lassen sich meist sehr genau bestimmen. Ihre Stunde war in einem entlegenen Winkel des flachen Mittelwestens gekommen. Die Sterne flirrten wie Feuerräder an einem purpurnen Himmel, die Zeltklappen waren geöffnet, um an diesem heißen Sommerabend ein wenig Luft in den Innenraum zu lassen. Ganz hinten stand Maximilian mit einem Zuschauer und deutete ihr durch Kodeworte an, daß dieser eine Uhr in der Hand hielt.
    »Ich sehe nichts mehr«, stieß sie plötzlich hervor. »Andere Gedanken verdrängen das Bild.« Diese »anderen Gedanken«

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