Ein Ort zum sterben
federleichte Hand legte sich über die von Mallory. »Sie halten sich für unsterblich, Kind, hab ich recht? Natürlich hab ich recht.«
Mondgesicht setzte sich ebenfalls auf die Couch, lehnte sich behaglich zurück und ließ die kurzen, stämmigen Beine baumeln. »Durch die Séancen wurden Samanthas letzte Tage sehr viel abwechslungsreicher, soviel steht fest. Es war fast wie eine Lotterie. Oder wie Bingo. Überhaupt, wenn es den Bingosaal nicht gäbe … Den hat der liebe Gott wohl extra als Warteraum für uns Gruftis erfunden.« Mondgesicht seufzte. »Und jetzt müssen wir wieder einen ganzen Monat warten.«
»Auf die nächste Séance?« fragte Mallory.
»Nein, die Séancen sind einmal in der Woche. Sie meint die Morde«, erläuterte die mit der Mannequinfigur. »Meist liegen vier Wochen dazwischen.«
»Weiß die Polizei von den Séancen?«
»Gott behüte! Redwing wäre das gar nicht recht. Wegen ihres Karmas. Künstler sind ja so sensibel. Sie werden uns doch nicht verpetzen, Kind?«
Von Markowitz hatte Mallory gelernt, wie wichtig es ist, gründliche Feldforschungen zu betreiben. Jetzt war sie mitten im Land der Blauspülungen und des grauen Stars, der Krückstöcke und Stützstrümpfe, Morde und Komplotte.
Das Dienstmädchen schwang eine kleine Handglocke.
Wieder mußte Mallory an Vögel denken, als sich die alten Damen wie ein Schwarm erhoben und unter Kleiderrascheln und Stühlescharren an dem weiß gedeckten Tisch Platz nahmen. Mallory saß zwischen Jonathan Gaynor und einer Frau mit Nickekopf, Edith zwischen Nickekopf und der Gastgeberin. Redwing nahm die Hände der rechts und links von ihr Sitzenden, und ihrem Beispiel folgend faßten sich jetzt alle bei der Hand.
Eine Schale mit einer schwarzen, noch nicht angezündeten Kerze stand in der Tischmitte, daneben eine bunt bemalte Madonna mit Kind. Vor Redwing lag eine kleine Sammlung von Gegenständen: Markowitz’ Taschenuhr, juwelenglitzernde Ringe, ein Schlüssel, eine blonde, mit einem Band umwundene Strähne aus feinem Kinderhaar.
Das Dienstmädchen zog schwere Vorhänge vor die Fenster, in deren Scheiben die Sonne stand. Als der Raum im Dunkeln lag, flammte die schwarze Kerze, die nun die einzige Lichtquelle war, wie von selbst auf. Süßlicher Weihrauchduft zog durch den Raum, verstärkte und überlagerte den Parfümgeruch. In dem schwankenden Kerzenlicht sah es aus, als beginne die kleine Madonna mit zuckenden Bewegungen zu tanzen.
Redwing schloß die Augen und legte den Kopf zurück. »Vater unser, der du bist im Himmel«, begann sie, und alle – bis auf Mallory – schlossen die Augen, alle – bis auf Mallory – sprachen ihr die Worte nach.
Vater unser, der du bist im Himmel …
Mallory bewegte nur die Lippen. Eine Ketzerseele, die nicht glauben mag, daß der Himmel käuflich ist.
Geheiligt werde dein Name …
Und die immer wieder neu mit der Erkenntnis fertig werden mußte, daß in jener Grube Markowitz lag, den Würmern zum Fraß.
Dein Reich komme, dein Wille geschehe …
Die Würmer kriechen hinein, die Würmer kriechen heraus.
Staub zu Staub, Asche zu Asche, tot ist tot, Leiche ist Leiche. Ganz allein in der kalten Erde. Markowitz.
Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern …
Nein, nie.
Der Junge schlängelte sich an Redwings Sessel heran und blieb mit hängenden Armen dahinter stehen. Die Madonna wirkte lebendig gegen ihn. Mallory war fest entschlossen, das Jugendamt einzuschalten, sobald sie sich davon überzeugt hatte, daß er unter Drogen stand. Sie konnte es nicht mit ansehen, wenn ein Kind geschlagen wurde, und hier geschah Schlimmeres. Ganz kurz tauchte sie in eine Grauzone frühester Erinnerungen ein, die gleich wieder entschwanden wie ein zerflatternder Traum und die sie, einem dunklen Instinkt gehorchend, auch nicht festzuhalten versuchte.
Das Trichtergrammophon begann zu spielen. Erst Klassik, dann Schlager der zwanziger Jahre, schließlich Rock ’n’ Roll aus den Fünfzigern. Mallory horchte auf; sie hatte ein Album aus Markowitz’ Kellersammlung erkannt.
Redwing zog unter den Gegenständen auf dem Tisch Markowitz’ Uhr hervor. Die Musik verstummte.
Das Medium schloß die Augen. Die Uhr, von Redwing an der Kette gehalten, senkte sich, bis sie flach auf der Tischplatte lag. Redwings Finger ließen die Kette los. Das Medium verdrehte die Augen, stemmte die Handflächen auf die Tischplatte und setzte sich in wiegende Bewegung, erst ganz sacht, dann immer schneller, bis der ganze
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