Ein Ort zum sterben
dem kleinen Lokal am Gramercy Park ließ Edith sich Tee nachschenken, und Mallory behielt über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg die Tür im Auge. Es dauerte vierzig Minuten, bis Jonathan Gaynor hereinkam und sich zu ihnen setzte. Er legte die Taschenuhr neben Mallorys Teller mit dem unberührten Croissant. Sie starrte die Uhr an. Wie hatte sie die nur vergessen können?
»Alles in Ordnung?« fragte er besorgt, während er seinen eckigen Körper auf die Bank neben Edith schob.
Mallory vergaß, ihn zu ignorieren oder ihm mit einem vernichtenden Blick zu signalisieren, daß es ein Irrtum war zu glauben, er könne ein bißchen menschliche Wärme mit ihr teilen. Sie war so verunsichert, daß sie ihm die besorgte Frage durchgehen ließ. Daß sie sich von Redwing hatte vorführen lassen, ging ihr nach, und das sah man ihr wohl auch an, denn Gaynor wurde jetzt noch kühner und wagte – mit dem Unschuldsblick eines schüchternen jungen Kansasfarmers im Weizenfeld – ein herzlich-teilnahmsvolles Lächeln.
Zu ihrem Schrecken merkte sie, daß sie das Lächeln fast spontan zurückgab.
»Sie hätten ihr nicht die richtige Uhr in die Hand geben dürfen«, sagte er.
»Es ging nicht anders«, wandte Edith ein. »Eine falsche hätte Redwing sofort erkannt, die Frau ist hochbegabt.«
»Zum Teufel mit der Begabung«, sagte Mallory. »Redwing holt per Computer Auskünfte über ihre Kunden ein. Und weil meine Geschichte sich mit diesen Auskünften decken mußte, habe ich ihr Markowitz als Material gegeben.«
»Riskant«, sagte er. »Demnach weiß sie auch, daß Sie Polizistin sind.«
Mallory nickte.
»Sie haben in Redwing wirklich Markowitz gesehen, nicht?« fragte Edith.
»Eine großartige Schau, das muß ihr der Neid lassen.«
»Es wäre ein schwerer Fehler, ihr Talent zu unterschätzen«, sagte Edith.
Gaynor lächelte ihr zu. »Redwings Vorstellung hat offenbar Eindruck auf Sie gemacht.«
»Sehr gekonnt«, bestätigte Edith. »Keine billige Schmierenkomödie.« Zum drittenmal winkte sie der Bedienung mit erhobener Teetasse. Die junge Frau in dem schmuddeligen weißen Kittel ging rasch an ihr vorbei, den Blick stur auf die Wanduhr gerichtet, und Edith setzte enttäuscht die Tasse wieder ab.
Mallory fing den Blick der Bedienung ein. In ihren Augen stand nur eine ganz leise Drohung, aber die junge Frau hatte es plötzlich sehr eilig, den Tee einzuschenken. Dann ließ sie die Kanne auf dem Tisch stehen und machte, daß sie wegkam.
»Das Beste haben Sie gar nicht mitgekriegt«, sagte Gaynor. »Der Tisch erhob sich fast einen halben Meter in die Luft.« Er machte eine weit ausgreifende Handbewegung und fegte die Zuckerdose vom Tisch. »Ganz schön unheimlich.« Er bückte sich, um die Zuckerdose aufzuheben, und der Pfefferstreuer fiel Edith in den Schoß. »Pardon. Möchte wissen, wie sie das gemacht hat. Der Junge stand einen Meter weit weg, und Redwings Hände lagen flach auf dem Tisch.«
»Kein Kunststück«, sagte Mallory. »Die Ringe schnitten ihr in die Finger, als sie die Hände auf den Tisch legte. Und das Tischtuch warf zwei Falten. Sie hatte die Ringe in die Nadeln unter dem Stoff gehakt und konnte nun den Tisch nach Bedarf manipulieren.«
»Ah ja«, sagte Gaynor enttäuscht wie ein kleiner Junge, der gerade erfahren hat, daß es keinen Weihnachtsmann gibt. »Aber das war noch nicht alles. Sind die Frauen durch Stiche in die Brust getötet worden?«
»Weshalb fragen Sie?«
»Als Redwing Kontakt mit meiner Tante aufnahm, legte der Junge die gewölbte Hand an die rechte Brust oder dahin, wo mal eine Brust gewesen war. Jetzt war da nur noch eine blutige, zerstückelte Masse.«
Mallory hob unbestimmt die Schultern, ohne zu antworten. Als sie sich nach der Bedienung umsah, verschwand der schmuddelige Kittel hinter der Tür für Damen, und die Tür klappte sehr nachdrücklich zu.
Vor dem Lokal trennten sich Edith und Mallory von Gaynor. Mallory fuhr Edith Candle nach Hause, brachte sie bis vor die Tür von Apartment 3 B und ließ dann den Aufzug im zweiten Stock halten. Vor ihrem letzten Termin hatte sie noch zwei Stunden Zeit.
Die Tür war unverschlossen. Hatte Charles sich etwa von Ediths schlechten Angewohnheiten anstecken lassen? Gute New Yorker reagieren schnell. Der Revolver lag in ihrer Hand, als sei er in diesem Moment dort herausgewachsen. Mit der Waffe im Anschlag stieß sie die Tür auf. In einem der hinteren Räume brannte Licht. Katzengleich schlich sie sich an.
Im warmen Licht der
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