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Ein Ort zum sterben

Ein Ort zum sterben

Titel: Ein Ort zum sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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Mr. Esteban schob die Kassette in den Recorder. Mallory sah fasziniert auf das tintenschwarze Haar mit dem halben Zentimeter Grau am Scheitel.
    »Wir nehmen die Schüler alle zwei Wochen auf Video auf, damit sie selbst sehen können, wie sich ihre Leistungen verbessert haben. Meist löschen wir die Aufnahmen dann wieder, aber von dieser hier mochten wir uns nicht trennen. Er war ein phantastischer Tänzer, ein Naturtalent. Sie werden es gleich selbst sehen.«
    Auf dem Bildschirm erschien der grauhaarige, übergewichtige Markowitz mit einer schlanken jungen Tanzpartnerin. Die junge Frau in dem roten Kleid und den flachen Tanzschuhen war etwa so alt wie Mallory, vielleicht auch jünger, und kam ihr irgendwie bekannt vor. Dann näherte sich das seltsame Paar der Kamera, und Mallory schnappte nach Luft.
    Es war Helen Markowitz.
    Nicht die behäbig-mollige Matrone, die sie kannte, sondern dreißig Jahre jünger, ein Teenager mit Gel in den Haaren und einem Ring in der Nase.
    Warum nicht, dachte Mallory und sank auf einen der abgewetzten Plüschsessel. Gespenster hatten in dieser Woche offenbar Hochkonjunktur.
    Rabbi Kaplan hatte recht gehabt: Markowitz war ein großartiger Tänzer. Zur Musik von Chuck Berry stemmte er seine Partnerin in die Luft, wirbelte sie herum und setzte sie wieder ab. Rock ’n’ Roll in Reinkultur. Schwung und fließende Bewegungen ließen die Jahre vergessen: Ein junger Louis tanzte mit einer Helen, die fast noch ein Kind war.
    »Wie heißt die junge Frau?«
    »Brenda Mancusi.«
    »Wo ist sie?«
    »Brenda arbeitet nicht mehr hier. Nachdem wir das von Mr. Markowitz gehört hatten, ist sie nicht mehr gekommen.«
    »Ich brauche die Adresse und Telefonnummer und eine Kopie von Ihrem Videoband.«
     
    Er hatte nicht damit gerechnet, sie noch einmal zu sehen. Doch da stand sie, hatte zwei Umschläge in der schmuddeligen Hand und hielt sie ihm unter die Nase. »Da!« krähte sie. »Da! Reicht das?«
    Mit zwei Fingern nahm er ihr die Umschläge ab, überlegte, ob man sich auf diese Art Läuse holen konnte, und fand sich selber ziemlich schäbig. Als er den Namen auf der Stromrechnung gelesen hatte, wiegte er skeptisch den Kopf.
    »Daraus geht nur hervor, daß Sie den gleichen Nachnamen haben wie Samantha Siddon.«
    »Ich will mein –«
    »Nach unserem Gespräch habe ich versucht, Mrs. Siddons Anwalt anzurufen. Er ist in Europa und telefonisch nicht zu erreichen. Sein Partner hat versprochen, sich um die Angelegenheit zu kümmern und mir Bescheid zu geben.«
    »Wer’s glaubt, wird selig! Wahrscheinlich ist der Arsch inzwischen mit meinem Geld schon über alle Berge.«
    »Ich kann Sie beruhigen, Mrs. Siddons Geld ist bei uns gut aufgehoben. Aber ihre Konten bleiben eingefroren, bis der Bank die Anweisungen ihres Testamentsvollstreckers vorliegen. Und auch dann brauchen wir von Ihnen einen Ausweis mit Bild –«
    »Und ich brauche Geld, Sie Saftsack. Wissen Sie, was ich in der Tasche habe? Da …«
    Sie stülpte die Taschen der Brokatjacke um. Auf seinem Schreibtisch landeten ein paar vollgefusselte Münzen, ein Berg verrotzter Papiertaschentücher – und das Springmesser.
    Gewiß, sie hatte ihn nicht bedroht, es war mit den anderen Sachen herausgefallen. Aber ein Messer … Vielleicht hatte dieser Anblick – ein leibhaftiges Messer in der Bank – ihn einfach umgeworfen, vielleicht hatte er deshalb auf den Alarmknopf gedrückt.
    Während sie noch beide mit großen Augen das Messer ansahen, kamen zwei dickliche grauhaarige Wachmänner mit knallroten Gesichtern die Treppe hochgekeucht.
    Der Banker wechselte einen erschrocken-ungläubigen Blick mit seiner Besucherin. Margot Siddon nahm das Messer an sich, lief die Treppe hinunter und drängte sich an den angejahrten Wachmännern vorbei, die beide vergeblich nach ihr griffen und dann schwerfällig kehrtmachten, um die Verfolgung aufzunehmen. Margot stolperte, stieß mit einem Bankkunden zusammen, fing an zu heulen vor Wut und war auf und davon, noch ehe die beiden sie einholen konnten.
    »Nein«, sagte Mallory, »sie erwartet nur mich. Über Sie hätte Redwing sonst vielleicht Hintergrundinformationen eingeholt, und das ist schließlich nicht im Sinne des Erfinders. Ich gebe Sie als eine Freundin der Familie aus.«
    »Keine gute Idee«, sagte Edith Candle. »Es hochstapelt sich viel leichter, wenn man sich weitgehend an die Wahrheit hält. Mit einer glatten Lüge schadet man sich nur. Wenn die Frau was kann, durchschaut sie den Schwindel

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