Ein Ort zum sterben
Tiffany-Schreibtischlampe saß Charles. Er war so vertieft in die Zeitschrift, die vor ihm lag, daß er Mallory gar nicht zur Kenntnis nahm. Beneidenswert, diese Konzentration, dachte sie. Nur dieses Lesen mit Lichtgeschwindigkeit irritierte sie.
Sie steckte den Revolver wieder ins Holster und ging leise ins Vorderzimmer zurück. Es war doch ein gewisser Trost, daß er da war. Geh zu Charles, wenn du Hilfe brauchst, hatte Markowitz gesagt. Nicht: Wenn du vor hast, ihn und seine Verbindungen zu benutzen. Daß sie Charles in den Fall hineinzog, hätte er bestimmt nicht gewollt. Sie setzte sich auf die Couch, die keine kostbar-unbequeme Antiquität, sondern weich gepolstert war, ein bißchen wie die zu Hause in Brooklyn, und sie freundlich aufnahm. Am liebsten wäre sie hier sitzen geblieben und hätte sich nicht mehr vom Fleck gerührt. Der Abend war noch lange nicht zu Ende, aber allmählich setzte die Müdigkeit ein und drückte auf die Lider.
Sie mochte es drehen und wenden, wie sie wollte, aber sie konnte einfach nicht nachvollziehen, was Markowitz gesehen hatte. Von der Logik her sprach viel für Coffeys Theorie, daß Markowitz gestorben war, ohne seinen Mörder zu kennen. Aber Mallory glaubte fest an Markowitz – so wie er sie gelehrt hatte, an den Shadow zu glauben. Zum Teufel mit der Logik.
In fünfzig Prozent aller Fälle half sie einem nicht weiter. Die Augen fielen ihr zu.
Sie wachte davon auf, daß das Polster sich unter dem Gewicht einer zweiten Person senkte. Charles lächelte ihr zu. Sie liebte dieses verrückte Lächeln. Dann aber wich sein Lächeln einem Ausdruck der Besorgnis. Was mochte er in ihrem Gesicht lesen? Was verriet es ihm? Hatte es Sinn, ihm etwas zu verschweigen? Konnte sie es überhaupt? Wahrscheinlich nicht.
»Die Séance ist nicht so gelaufen, wie du gedacht hast, wie?«
Daß sie am Gramercy Square gewesen war, wußte er offenbar von Edith. Was wußte er noch? Er konnte noch aus Winzigkeiten die verblüffendsten Schlüsse ziehen.
»Nein. Aber ich habe mich sehr nett mit Markowitz unterhalten.«
Das ging ihm unter die Haut. In seinen Augen stand jetzt nicht nur Sorge, sondern fast so etwas wie Zorn. Ärgerte er sich über sie? Und warum?
»Woher wußte Redwing von der Verbindung zwischen dir und Markowitz?« fragte er sanft. Sein Zorn war demnach nicht gegen sie gerichtet. Wem galt er dann? Edith?
»Von mir.«
»Das könnte ein entscheidender Fehler gewesen sein. Hast du Edith gesagt, daß du Louis ins Spiel bringen würdest?«
»Ja, es ging nicht anders. Gaynor hat auch gesagt, daß es ein Fehler war.« Wenn Charles mit seiner Einschätzung recht hatte, mußte Markowitz jetzt im Rock ’n’ Roll-Rhythmus in seinem Grab rotieren. Sie machte einen Schnitzer nach dem anderen, ließ sich ständig in die Karten schauen.
»Komm, sprich dich aus …«
Seine Hand lag über der ihren und schenkte ihr die in Markowitz’ letztem Brief verheißene menschliche Wärme. Eine Wärme, die sie so lange nicht gespürt hatte, daß sie das Gefühl nur mit Mühe identifizieren konnte. Geh zu ihm, wenn du Hilfe brauchst, sagte Louis Markowitz, der zusammen mit Helen in ihrem Kopf wohnte wie in einer Nachbildung ihres blinkenden, blitzenden, nach Sauberkeit und Kiefernnadelöl duftenden Brooklyn-Hauses.
Sie schilderte die Séance in allen Einzelheiten, wie sie es von ihrem Job her gewöhnt war. Nur den Moment, in dem sie auf Redwings Markowitz-Schau hereingefallen war, ließ sie aus. Denn das war mit das Schlimmste an der ganzen Sache: daß ihr die Augen geöffnet worden waren, daß sie nie wieder an Illusionen, an das So-tun-als-ob würde glauben können. Weil sie nun die Drähte gesehen hatte, an denen die Puppen tanzten.
»Wie ist es möglich, daß sie ihn so gut nachmachen konnte, Charles? Daß sie genau gewußt hat, wie die Opfer umgebracht wurden? Die Einzelheiten standen nicht in der Zeitung.«
»Deine Computer haben dich betriebsblind gemacht, Mallory. Hättest du mehr Erfahrung in der praktischen Arbeit, wüßtest du, daß man auch von dem Datennetz Mensch jede Menge Informationen abzapfen kann. Wie viele Polizisten, wie viele Zivilisten waren am Tatort, wie viele von denen haben Frauen, Schwägerinnen, Schwestern, Mütter, und mit wem reden diese Leute? Daß der Junge Markowitz’ Verletzungen angedeutet hat, besagt gar nichts. Im übrigen kennen wir doch Markowitz alle aus dem Fernsehen. Während der Senatsanhörungen war er ständig auf dem Bildschirm. Einmal abends, als wir
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